Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Es musste kurz nach Mittag sein. Vermutlich war der Fahrer zum Essen gegangen.
Das Problem war, dass man Lloyd weiterhin aus den Fenstern über der Straße sehen konnte. Wenn er blieb, wo er war, würdeman ihn früher oder später entdecken. Und niemand konnte sagen, was dann geschah.
Was sollte er tun?
Als Lloyd sah, wie sich an einem Dachfenster ein Vorhang bewegte, wurde ihm die Entscheidung abgenommen.
Weg hier!
Er stand auf und zuckte zusammen, als ein Mann im Anzug auf dem Bürgersteig an ihm vorbeikam. Der Mann musterte Lloyd neugierig, blieb aber nicht stehen.
Lloyd kletterte über die Seitenwand und ließ sich auf den Boden fallen. Erst jetzt sah er, dass der Lkw vor einem Gasthaus stand. Wahrscheinlich war der Fahrer dort hineingegangen. Zu Lloyds Entsetzen saßen zwei Männer in deutschen Uniformen am Fenster und tranken Bier. Doch wie durch ein Wunder blickten sie nicht in seine Richtung.
Mit schnellen Schritten ging er davon.
Immer wieder ließ er vorsichtig den Blick schweifen. Jeder, an dem er vorbeikam, starrte ihn an. Die Leute hier wussten sehr genau, was er war. Als eine Frau aufschrie und davonrannte, wurde Lloyd endgültig klar, dass er seine Khakisachen so schnell wie möglich loswerden und gegen Kleidung tauschen musste, die nicht so verräterisch war.
Unvermittelt packte ihn ein junger Mann am Arm. »Kommen Sie mit«, sagte er auf Englisch mit schwerem Akzent. »Ich helfe Ihnen.«
Sie bogen in eine Nebenstraße ein. Lloyd wusste zwar nicht, ob er dem Mann trauen konnte, aber er konnte nicht lange überlegen, also ging er mit.
»Hier entlang«, sagte der Fremde und führte Lloyd in ein kleines Haus.
In der spärlich eingerichteten Küche saß eine junge Frau mit einem Baby. Der Mann stellte sich als Maurice vor, seine Frau als Marcelle. Das Baby hieß Simone.
Zum ersten Mal seit seiner Flucht gestattete Lloyd sich einen Augenblick der Erleichterung. Er war den Deutschen entkommen! Zwar schwebte er noch immer in Gefahr, aber wenigstens war er von der Straße herunter und in einem Haus, in dem Menschen wohnten, die ihm freundlich gesinnt waren.
Das steife, förmliche Französisch, das Lloyd in der Schule und in Cambridge gelernt hatte, war während seiner Flucht aus Spanien flüssiger geworden, besonders in den zwei Wochen, als er in Bordeaux Trauben gepflückt hatte. »Sie sind sehr freundlich«, sagte er. »Danke.«
Maurice wechselte zum Französischen, spürbar erleichtert, nicht mehr sein holpriges Englisch sprechen zu müssen. »Sie müssen Hunger haben.«
»Das kann man wohl sagen.«
Marcelle schnitt ein paar Scheiben von einem Laib Brot ab und legte sie zusammen mit einem Stück Käse auf den Tisch. Dazu gab es Wein aus einer Flasche ohne Etikett. Lloyd setzte sich und schlang das Essen gierig herunter.
»Ich hole Ihnen ein paar alte Sachen«, sagte Maurice. »Aber Sie müssen auch lernen, sich anders zu bewegen. Sie halten sich gerade und marschieren wie ein Soldat. Sie müssen langsamer gehen und den Blick auch mal zu Boden richten.«
Mit vollem Mund erwiderte Lloyd: »Danke für den Tipp.«
An der Wand stand ein kleines Bücherregal, das auch Werke von Marx und Lenin enthielt. Maurice bemerkte Lloyds Blick und erklärte: »Ich war mal Kommunist, bis zum Hitler-Stalin-Pakt. Jetzt habe ich nichts mehr damit am Hut.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur das große Ziel, den Faschismus zu besiegen, ist geblieben.«
»Ich war in Spanien«, erzählte Lloyd. »Bis dahin habe ich noch an eine vereinte linke Front geglaubt, danach nicht mehr.«
Die kleine Simone schrie. Marcelle öffnete die oberen Knöpfe ihres weiten Kleides und stillte das Baby. Was solche Dinge betraf, waren französische Frauen wesentlich lockerer als die prüden Britinnen.
Nach dem Essen führte Maurice ihn nach oben. Aus einem Schrank, in dem sich kaum noch Sachen befanden, holte er einen dunkelblauen Overall, ein hellblaues Hemd, Unterwäsche und Socken, alles abgetragen, aber sauber. Die Freundlichkeit dieses erkennbar armen Mannes rührte Lloyd, und er hätte sich liebend gern revanchiert.
»Werfen Sie Ihre Armeesachen auf den Boden«, sagte Maurice. »Ich werde sie verbrennen.«
Lloyd hätte sich gern gewaschen, aber es gab kein Badezimmer. Wahrscheinlich lag es im Hinterhof.
Er zog die frischen Sachen an und betrachtete sich im Wandspiegel. Das französische Blau stand ihm besser als das Khaki der Armee, aber noch immer war ihm der englische Soldat anzusehen.
Er ging wieder nach
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