Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
halten.
In ihrem Zimmer zog sie Hose und Stiefel an. Als Boy die Treppe zum Vordereingang hinunterstieg, nahm Daisy die Hintertreppe, durchquerte die Küche und den Hof hinter dem Haus und gelangte in den alten Stall. Dort zog sie eine Lederjacke über, eine Schutzbrille und einen Sturzhelm. Dann öffnete sie die Garagentür und schob ihr Motorrad heraus, ein Triumph Tiger 100. Die Zahl stand für die Höchstgeschwindigkeit der Maschine: hundert Meilen in der Stunde. Daisy startete die Maschine und fuhr zügig vom Hof.
Nach der Benzinrationierung im September 1939 hatte Daisy sich auf das Motorradfahren verlegt. Sie liebte das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, das die Maschine ihr vermittelte.
Sie bog gerade noch rechtzeitig auf die Straße ein, um zu sehen, wie Boys cremefarbener Bentley Airline um die nächste Ecke verschwand.
Sie folgte dem Wagen.
Boy fuhr über den Trafalgar Square und durch das Theaterviertel. Daisy hielt ausreichend Abstand, damit er sie nicht bemerkte. Im Stadtzentrum Londons herrschte noch immer reger Verkehr.Hunderte von Fahrzeugen waren in offiziellem Auftrag unterwegs. Außerdem war die Benzinrationierung für Privatwagen nicht allzu streng, erst recht nicht für Personen, die nur in der Stadt unterwegs waren.
Boy fuhr nach Osten in den Finanzdistrikt. An einem Samstagnachmittag herrschte hier nur wenig Verkehr, sodass Daisy noch mehr darauf achten musste, nicht von Boy entdeckt zu werden. Doch mit der Schutzbrille und dem Helm war sie nur schwer zu erkennen. Außerdem achtete Boy kaum auf die Umgebung. Er fuhr mit offenem Seitenfenster und rauchte dabei eine Zigarre.
Als er sich Aldgate näherte, überkam Daisy eine schreckliche Ahnung, wohin er wollte.
Er bog in eine der weniger ärmlichen Straßen des Eastends ein und parkte vor einem schmucken Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert. Doch ein Stall war nirgends zu sehen. Aldgate war ohnehin keine Gegend, in der Rennpferde verkauft oder gezüchtet wurden. Daisy sah sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass Boy sie belogen hatte.
Am Ende der Straße hielt sie an und beobachtete, was weiter geschah, ohne vom Motorrad zu steigen. Boy stieg aus dem Wagen und knallte die Tür zu. Er blickte sich nicht um, schaute nicht einmal auf die Hausnummer. Offensichtlich war er nicht zum ersten Mal hier und wusste genau, wohin er wollte. Mit schwungvollen Schritten, an der Zigarre paffend, ging er zur Eingangstür, öffnete sie mit einem eigenen Schlüssel und verschwand im Haus.
Daisy hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.
Aber sie würde nicht zulassen, dass Boy es mit fremden Frauen trieb. Sie fuhr zu dem Haus, bockte ihr Motorrad hinter Boys Bentley auf, nahm Sturzhelm und Schutzbrille ab, ging zur Vordertür und klopfte.
Die Tür öffnete sich einen Spalt weit. Sofort drückte Daisy fest dagegen. Eine junge Frau im schwarzen Kostüm eines Dienstmädchens taumelte mit einem Schrei zurück. Schon war Daisy im Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Sie stand im Eingangsflur eines typischen Londoner Mittelklassehauses, doch er war exotisch mit orientalischen Teppichen, schweren Vorhängen und einem Gemälde mit nackten Frauen in einem Badehaus dekoriert.
Daisy riss die nächste Tür auf und betrat den vorderen Salon. Erwar schummrig erleuchtet; Samtvorhänge hielten das Sonnenlicht ab. In dem Zimmer hielten sich drei Personen auf. Eine Frau um die vierzig starrte Daisy erschrocken an. Sie trug einen weiten Überwurf aus Seide, war sorgfältig geschminkt und hatte grellroten Lippenstift aufgetragen. Daisy nahm an, es war die Mutter. Hinter ihr saß ein Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren auf einer Couch, nur in Unterwäsche und Strümpfen, eine Zigarette zwischen den Lippen. Neben dem Mädchen saß Boy. Seine Hand lag oberhalb des Strumpfbands an ihrem Schenkel. Schuldbewusst riss er sie weg. Seine Reaktion war lächerlich, als glaubte er, die Szene würde unschuldig wirken, wenn er nur die Hände von dem Mädchen nahm.
Daisy kämpfte mit den Tränen. »Du hast mir versprochen, sie aufzugeben!«, rief sie. Am liebsten hätte sie die kalte Wut eines Racheengels gezeigt, doch sie klang nur verletzt und traurig.
Boy errötete. »Was machst du hier?«
»Ach du Scheiße«, sagte die ältere Frau, »das ist seine Alte!«
Die Frau hieß Pearl, erinnerte sich Daisy, und die Tochter war Joanie. Wie schrecklich, dass sie die Namen solcher Frauen kannte.
Das Dienstmädchen kam an die Zimmertür. »Ich hab die Schnepfe nicht
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