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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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entfernt.
    Er hatte den September in der Gegend von Bordeaux verbracht und bei der Weinlese geholfen, genau wie in dem schrecklichen Jahr 1937. Jetzt hatte er ein bisschen Geld, um in billigen Lokalen essen zu können, anstatt sich von unreifem Gemüse zu ernähren, das er in anderer Leute Gärten ausgrub, oder von rohen Eiern, die er stahl. Er reiste auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er Spanien vor drei Jahren verlassen hatte. Von Bordeaux aus war er nach Süden gezogen, durch Toulouse und Béziers. Gelegentlich war er auf Güterzügen mitgefahren; meist aber hatte er sich bei Lastwagenfahrern die Mitfahrt erbettelt.
    Jetzt saß er in einem Café an der Hauptstraße, die von Perpignan zur Grenze führte. Er trug noch immer Maurice’ blauen Overall und das Barett; außerdem hatte er einen kleinen Leinensack dabei, in dem eine rostige Kelle und eine mit Mörtel verklebte Wasserwaage steckten – die vorgetäuschten Beweise, dass er ein spanischer Maurer auf dem Weg nach Hause war. Doch Gott verhüte, dass ihm jemand eine Arbeit anbot: Lloyd hatte nicht die leiseste Ahnung vom Maurerhandwerk.
    Er machte sich Sorgen, was den Weg über die Berge betraf. Vor drei Monaten, in der Picardie, hatte er sich eingeredet, er könne die Pyrenäenpfade, über die er 1936 von Einheimischen nach Spanien geführt worden war, nun allein finden, zumal er ein Jahr später auf fast demselben Weg geflohen war, sodass er glaubte, sich an jeden Pfad und jede Brücke erinnern zu können. Doch als die purpurnen Gipfel und grünen Pässe am Horizont erschienen, kam ihm diese Einschätzung immer unwahrscheinlicher vor.
    Lloyd beendete sein Mittagessen, einen gut gepfefferten Fischeintopf, und unterhielt sich leise mit einer Gruppe von Lastwagenfahrern am Nachbartisch. »Ich brauche eine Mitfahrgelegenheit nach Cerbère«, sagte er. Cerbère war das letzte Dorf vor der spanischen Grenze. »Fährt einer von euch dorthin?«
    Wahrscheinlich fuhren sie alle in diese Richtung; diese Straße führte ohnehin nirgendwo anders hin. Trotzdem zögerten die Männer. Dies hier war Vichy-Frankreich, technisch gesehen zwar unabhängig, aber faktisch unter deutscher Kontrolle; den Rest desLandes hatte die Wehrmacht besetzt. Hier war niemand sonderlich erpicht, einem Fremden mit ausländischem Akzent zu helfen.
    »Ich bin Maurer«, erklärte Lloyd und wies auf den Leinensack. »Ich will nach Hause, nach Spanien. Ich heiße Leandro.«
    Ein fetter Mann im Unterhemd sagte: »Ich kann dich die halbe Strecke mitnehmen.«
    »Danke.«
    »Ich muss aber sofort los.«
    »Kein Problem.«
    Sie verließen das Lokal und stiegen in einen verdreckten Renault-Laster, auf dessen Plane der Name eines Elektrohändlers gemalt war. Als sie losfuhren, wollte der Fahrer von Lloyd wissen, ob er verheiratet sei. Als Lloyd verneinte, folgte ein Schwall unangenehmer persönlicher Fragen. Lloyd erkannte, dass der Mann offenbar eine gewisse Faszination verspürte, was das Sexualleben anderer Leute betraf. Ohne Zweifel hatte er Lloyd deswegen angeboten, ihn mitzunehmen; so hatte er Gelegenheit, ihm die aufdringlichen, teils peinlichen Fragen zu stellen. Er war aber keineswegs der Erste, der Lloyd aus solchen Motiven mitgenommen hatte.
    »Ich bin noch unschuldig«, gestand Lloyd dem Fahrer wahrheitsgemäß, was zu einem regelrechten Verhör darüber führte, ob er denn wenigstens schon mit Schulmädchen herumgefummelt habe. Was das betraf, verfügte Lloyd zwar über einige Erfahrung, aber er hatte nicht die Absicht, sie mit einem Fremden zu teilen, und weigerte sich, Einzelheiten preiszugeben. Gleichzeitig versuchte er, nicht allzu grob zu klingen. Endlich gab der Fahrer es auf. »Ich muss hier abbiegen«, sagte er und hielt an.
    Lloyd dankte ihm und setzte den Weg zu Fuß fort, erleichtert, den widerlichen Kerl los zu sein.
    Er hatte sich Maurice’ Rat zu Herzen genommen und marschierte nicht mehr wie ein Soldat; stattdessen hatte er eine Gangart entwickelt, die er für das glaubwürdige Schlurfen eines Bauern oder Wanderarbeiters hielt. Nie hatte er eine Zeitung oder ein Buch dabei, und sein Haar war zum letzten Mal von einem dilettantischen Barbier in Toulouse geschnitten worden. Außerdem rasierte er sich nur einmal in der Woche – eine überraschend effektive Methode, nicht groß aufzufallen. Vor allem wusch er sichnicht mehr, sodass er nun einen Geruch verströmte, der die meisten Leute auf Distanz hielt.
    Da in Frankreich und Spanien nur wenige Arbeiter Armbanduhren besaßen,

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