Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Leder bezogenen Schreibtisch. Darauf standen ein Tabakfass und ein Pfeifenständer.
Der Chefarzt war um die fünfzig und kräftig gebaut. In seinem Gesicht wirkte alles übergroß: die Nase, das kantige Kinn, die Ohren, die hohe Stirn. Er schaute Ada an und sagte: »Frau Hempel, nehme ich an?« Ada nickte. Willrich wandte sich Carla zu. »Und Sie sind Fräulein …?«
»Carla von Ulrich, Herr Professor. Ich bin Kurts Patentante.«
Willrich hob die Augenbrauen. »Sind Sie nicht ein bisschen jung für eine Patentante?«
Gereizt sagte Ada: »Wieso? Sie hat Kurt zur Welt gebracht. Damals war sie erst elf, aber sie war tüchtiger als der Arzt, denn der hat sich nicht mal blicken lassen!«
Willrich ignorierte die Bemerkung. Er musterte Carla abschätzig. »Wie ich sehe, hoffen Sie, Krankenschwester zu werden.«
Carla trug ihre Schwesternschülerinnenuniform. Aber sie hoffte nicht bloß, ihre Ausbildung erfolgreich abzuschließen, sie war fest davon überzeugt, dass sie es schaffte. »Ja, ich bin Schwesternschülerin«, bestätigte sie knapp. Sie mochte Willrich nicht.
»Bitte, setzen Sie sich.« Willrich schlug eine dünne Akte auf. »Nun denn. Kurt ist jetzt acht Jahre alt, in seiner Entwicklung jedoch auf dem Stand eines Zweijährigen.«
Er hielt inne und hob den Blick. Die beiden Frauen schwiegen.
»Das ist unbefriedigend«, erklärte der Arzt.
Ada schaute Carla an. Carla wusste nicht, worauf der Mann hinauswollte, und gab dies mit einem Schulterzucken zu verstehen.
»Es gibt eine neue Therapie für diese Art von Krankheit. Allerdings muss Kurt dafür in ein anderes Hospital verlegt werden.« Willrich klappte die Akte zu. Er schaute Ada an und lächelte zum ersten Mal. »Ich bin sicher, Sie werden Kurt diese Therapie ermöglichen wollen. Sie könnte seinen Zustand dramatisch verbessern.«
Carla gefiel das Lächeln des Mannes nicht. Es kam ihr irgendwie unheimlich vor. »Könnten Sie uns mehr über diese Therapie erzählen, Herr Professor?«, bat sie.
»Ich fürchte, Sie würden es nicht verstehen«, erwiderte er, »auch wenn Sie Schwesternschülerin sind.«
Doch so einfach wollte Carla ihn nicht davonkommen lassen. »Ich bin sicher, Frau Hempel würde gern Genaueres über die Behandlung wissen. Sind Operationen erforderlich? Oder werden andere Behandlungsmethoden eingesetzt, zum Beispiel Elektroschocks?«
»Die Therapie erfolgt medikamentös«, erwiderte Willrich mit sichtlichem Widerwillen.
»Und wohin müsste Kurt?«, fragte Ada.
»In ein Krankenhaus in Akelberg. Das ist in Bayern.«
Adas Geografiekenntnisse waren dürftig. Carla wusste, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie weit das war. »Das sind ungefähr vierhundertfünfzig Kilometer«, sagte sie.
»Oh nein!«, rief Ada. »Wie soll ich ihn da besuchen?«
»Mit dem Zug«, antwortete Willrich ungeduldig.
Carla sagte: »Das dürfte vier, fünf Stunden dauern. Dann müsste Frau Hempel vermutlich über Nacht bleiben. Und was ist mit den Fahrtkosten?«
»Darum kann ich mich nicht kümmern!«, sagte Willrich gereizt. »Ich bin Arzt, kein Reiseverkehrskaufmann!«
Ada war den Tränen nahe. »Wenn es Kurt hilft, ein paar Wortezu lernen und nicht mehr in die Hose zu machen, dann … dann können wir ihn eines Tages vielleicht wieder nach Hause holen.«
»So ist es«, sagte Willrich. »Ich war sicher, dass Sie ihm diese Chance auf ein besseres Leben nicht aus selbstsüchtigen Gründen verwehren.«
»Wollen Sie damit wirklich sagen, Kurt könnte irgendwann ein normales Leben führen?«, hakte Carla nach.
»In der Medizin gibt es keine Garantien«, erwiderte Willrich. »Selbst eine Schwesternschülerin sollte das wissen.«
Von ihren Eltern hatte Carla gelernt, keine Ausflüchte zu tolerieren. »Ich habe auch keine Garantie verlangt«, entgegnete sie gereizt. »Ich habe Sie nach einer Prognose gefragt. Und die müssen Sie ja wohl haben, sonst hätten Sie diese Behandlung doch gar nicht erst vorgeschlagen.«
Willrich lief rot an. »Die Therapie ist noch sehr neu, aber wir hoffen, dass sie Kurts Zustand deutlich verbessern wird. Das sage ich Ihnen doch schon die ganze Zeit.«
»Ist sie experimentell?«
»Medizin ist immer experimentell. Bei dem einen Patienten schlägt eine Therapie an, bei dem anderen nicht. Ich wiederhole: In der Medizin gibt es keine Garantie.«
Carla hätte ihm gern weiter widersprochen, allein schon, weil er arrogant war, aber sie wollte den Mann nicht gegen sich und damit gegen den kleinen Kurt aufbringen. Außerdem
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