Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
war sie nicht sicher, ob Ada überhaupt eine Wahl hatte. Ärzte durften auch gegen den Willen der Eltern handeln, wenn die Gesundheit eines Kindes auf dem Spiel stand, und das wiederum bedeutete, dass sie letztendlich tun und lassen konnten, was sie wollten. Willrich bat Ada nicht um Erlaubnis. Das war auch nicht nötig. Er sprach nur mit ihr, um sie so schnell wie möglich loszuwerden.
Carla fragte: »Können Sie Frau Hempel sagen, wie lange es ungefähr dauert, bis Kurt nach Berlin zurückkommt?«
»Ziemlich bald«, antwortete Willrich.
Das war eher eine Ausflucht als eine Antwort, aber Carla hatte das Gefühl, dass sie den Arzt noch mehr reizen würde, wenn sie nachhakte.
Ada schaute hilflos drein. Carla fühlte mit ihr. Sie wusste selbst nicht, was sie von der Sache halten sollte. Willrich hatte ihnenkaum Informationen gegeben. Aber Carla hatte inzwischen die Erfahrung gemacht, dass viele Ärzte dazu neigten, Patienten mit Plattitüden abzuspeisen und gereizt zu reagieren, wenn man nachhakte.
Ada sagte schluchzend: »Wenn es hilft, dass es meinem Kurt bald wieder besser geht …«
»Genau darum geht es uns«, sagte Willrich.
»Ich wäre einverstanden. Was meinst du, Carla?«
Carla sah den Unwillen auf Willrichs Gesicht: Es gefiel ihm nicht, dass Ada eine angehende Krankenschwester um Rat fragte.
»Du hast recht, Ada«, antwortete Carla. »Wir dürfen diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen … um Kurts willen … auch wenn es hart für dich sein wird.«
»Sehr vernünftig«, sagte Willrich und stand auf. »Danke, dass Sie gekommen sind.« Er ging zur Tür und öffnete sie. Carla hatte das Gefühl, als könne er sie gar nicht schnell genug loswerden.
Sie verließen das Kinderkrankenhaus und gingen zum Bahnhof zurück. Als der fast leere Zug abfuhr, griff Carla nach einem Flugblatt, das jemand auf dem Sitz hatte liegen lassen. Die Überschrift lautete: WIE MAN DEN NAZIS WIDERSTAND LEISTET . Darunter stand eine Liste von zehn Maßnahmen, die das vorzeitige Ende des Regimes herbeiführen sollten, angefangen mit Verzögerungen bei der Arbeit.
Carla hatte solche Flugblätter vorher schon gesehen, allerdings nicht oft. Sie wurden von irgendeiner Widerstandsbewegung verteilt, die im Untergrund arbeitete.
Ada riss ihr den Zettel aus der Hand, zerknüllte ihn und warf ihn aus dem Fenster. »Für so was kann man verhaftet werden!«, sagte sie. Sie war Carlas Kindermädchen gewesen, und manchmal verhielt sie sich, als wäre Carla noch immer ein Kind. Carla störte das nicht; sie wusste, dass es liebevoll gemeint war.
In diesem Fall aber hatte Ada vollkommen recht. Man konnte verhaftet werden, wenn man ein solches Flugblatt gelesen hatte, und mehr noch: Es reichte schon, den Fund nicht zu melden. Ada konnte sogar Ärger bekommen, weil sie das Flugblatt aus dem Zugfenster geworfen hatte. Zum Glück waren sie die einzigen Fahrgäste im Waggon.
Ada machte sich noch immer große Sorgen wegen der Auskünfte, die sie im Kinderkrankenhaus bekommen hatten. »Glaubst du wirklich, wir haben das Richtige getan, Carla?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Carla aufrichtig. »Aber ich glaube schon.«
»Dann bin ich beruhigt. Du bist Krankenschwester. Du verstehst von solchen Dingen mehr als ich.«
Carla arbeitete gern in ihrem Beruf, obwohl sie sich noch immer darüber ärgerte, dass man ihr das Medizinstudium verweigert hatte. Jetzt, da viele junge Männer in der Wehrmacht dienten, hatte sich die Einstellung gegenüber weiblichen Medizinstudenten verändert, und immer mehr Frauen drängten an die Hochschulen. Carla hätte sich erneut für ein Stipendium bewerben können, doch ihre Familie war auf ihr mageres Schwesterngehalt angewiesen: Ihr Vater hatte keine Arbeit, ihre Mutter gab Klavierunterricht. Sogar Erik schickte so viel wie möglich von seinem Sold nach Hause. Ada hatte seit Jahren keine müde Mark mehr bekommen; sie blieb nur, weil sie zur Familie gehörte.
Als sie nach Hause kamen, hatte Ada sich wieder halbwegs beruhigt. Sie ging in die Küche, zog ihre Schürze an und bereitete das Abendessen für die Familie zu.
Doch Carla setzte sich gar nicht erst an den Tisch; sie wollte an diesem Abend tanzen gehen. Sie zog ein knielanges Tenniskleid an, das sie sich aus einem alten Kleid ihrer Mutter genäht hatte. Dann trug sie Lippenstift und Puder auf und kämmte sich das Haar aus, anstatt es zu Zöpfen zu flechten.
Als sie in den Spiegel schaute, sah sie ein modernes Mädchen mit hübschem Gesicht und
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