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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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selbstbewusstem Blick. Sie wusste, dass ihr eigenwilliges Auftreten viele junge Männer abschreckte. Manchmal beneidete Carla ihre Mutter, die den Spagat zwischen Selbstbewusstsein und verführerischer Weiblichkeit perfekt beherrschte; aber das lag einfach nicht in Carlas Natur. Wann immer sie es versucht hatte, war sie sich dumm vorgekommen. Die Jungs mussten sie akzeptieren, wie sie war.
    Und es war ja auch nicht so, dass sie keine Verehrer gefunden hätte. Auf Feiern sammelte sie häufig eine kleine Schar Bewunderer um sich. Carla mochte zurückhaltende Jungs, die nicht versuchten, sie zu beeindrucken. Vor allem mussten sie Sinn für Humor habenund sie zum Lachen bringen. Einen richtigen Freund hatte Carla allerdings noch nicht gehabt.
    Um ihre Kleidung zu vervollständigen, zog sie sich einen gestreiften Blazer an, den sie gebraucht von einem Straßenhändler gekauft hatte. Sie wusste, dass ihre Eltern ihr Aussehen missbilligen würden. Es sei gefährlich, die Vorurteile der Nazis zu bedienen, pflegten sie zu sagen. Also musste Carla aus dem Haus, ohne gesehen zu werden. Aber das sollte an diesem Abend kein Problem sein. Mutter gab gerade Klavierunterricht; Carla hörte das zögerliche Spiel ihres Schülers. Wahrscheinlich saß Vater dabei und las Zeitung, denn sie konnten es sich nicht leisten, mehr als ein Zimmer zu beheizen. Und Erik war bei der Wehrmacht. Inzwischen war er in der Nähe von Berlin stationiert und würde bald Heimaturlaub bekommen.
    Carla verbarg ihr Kleid unter einem Regenmantel und steckte sich die weißen Schuhe in die Tasche. Dann ging sie den Flur hinunter, öffnete die Haustür, rief: »Bin bald wieder da!«, und machte, dass sie wegkam.
    Am Bahnhof Friedrichstraße traf sie sich mit Frieda, ihrer Freundin. Frieda trug ebenfalls ein gestreiftes Kleid und hatte sich einen schlichten Mantel darübergezogen. Auch ihr fiel das Haar offen über die Schultern. Allerdings war Friedas Kleid neu und teuer. Auf dem Bahnsteig wurden sie von zwei uniformierten Hitler-Jungen mit einer Mischung aus Missbilligung und Lust begafft.
    Die beiden Mädchen fuhren nach Wedding, einem von Arbeitern geprägten Stadtteil, der einst eine Bastion der Linken gewesen war. Sie wollten zur Pharus-Halle, in der die Kommunisten früher ihre Versammlungen abgehalten hatten. Jetzt gab es natürlich keine politischen Aktivitäten mehr. Trotzdem war das Gebäude zum Mittelpunkt einer Bewegung geworden: der Swing Kids.
    Junge Leute von fünfzehn bis fünfundzwanzig hatten sich bereits in den Straßen um die Halle versammelt. Die Swing Boys trugen karierte Jacketts und hatten Schirme dabei. Das sollte englisch aussehen. Um ihre Verachtung für das Militär auszudrücken, hatten sie sich die Haare lang wachsen lassen. Die Swing Girls wiederum trugen Make-up und amerikanische Sportkleidung. Sie alle hielten die Hitler-Jugend für dumm und langweilig.
    Carla war sich der Ironie bewusst: Als sie klein gewesen war,hatten andere Kinder sie geneckt und abfällig »Ausländerin« genannt, weil ihre Mutter aus England stammte. Jetzt betrachteten die gleichen Kinder alles Englische als modisch.
    Carla und Frieda betraten die Halle, in der es einen ganz normalen Jugendklub gab, wo Mädchen in Faltenröcken und Jungen in kurzen Hosen Tischtennis spielten und klebrige Orangeade tranken. Richtig rund jedoch ging es in den Nebenräumen.
    Frieda führte Carla rasch in einen großen Lagerraum, wo sich Stühle an den Wänden stapelten. Dort hatte Werner, Friedas Bruder, einen Plattenspieler angeschlossen und legte die Platten auf. Fünfzig, sechzig Jungen und Mädchen tanzten Jitterbug. Carla erkannte die Melodie sofort: Ma, He’s Making Eyes at Me.
    Es war verboten, Jazz zu spielen, weil die meisten Jazzmusiker Neger waren. Alles, was von »Nichtariern« stammte, war für die Nazis »undeutsch« und minderwertig. Sie fühlten sich davon in ihrer rassischen Überlegenheit bedroht. Unglücklicherweise liebten viele Deutsche den Jazz. Wenn jemand ins Ausland reiste, brachte er Platten mit; in Hamburg konnte man sie von amerikanischen Matrosen kaufen. Auf diese Weise war ein blühender Schwarzmarkt entstanden.
    Natürlich hatte Werner, der ein Auto, schicke Sachen, Zigaretten und Geld besaß, jede Menge Schallplatten. Er war noch immer Carlas Traummann, obwohl er eher auf Mädchen stand, die älter waren als sie und mit denen er ins Bett ging, wie man sich erzählte, und Carla war noch Jungfrau.
    Heinrich von Kessel, Werners Freund, kam zu ihnen

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