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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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riss sich zusammen.
    »Was haben Sie vor?«, wollte der Polizist wissen.
    »Wir transportieren eine Garderobe, Herr Wachtmeister«, antwortete Carla. Sie täuschte morbide Neugier vor, um ihre Nervosität zu verbergen. »Was ist denn hier passiert?«, fragte sie und fügte sicherheitshalber hinzu: »Hat es Tote gegeben?«
    Profis hassten diese Art von Neugier; das wusste Carla. Schließlich war sie selbst einer. Wie erhofft, reagierte der Polizist entsprechend. »Das geht Sie nichts an«, sagte er schroff. »Kommen Sie uns nicht in den Weg.« Damit drehte er sich um und richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Autowrack.
    Der Bürgersteig auf dieser Straßenseite war frei. Carla beschloss spontan, geradeaus weiterzugehen. Sie und Ada trugen die Garderobe mit der Leiche auf die Unfallstelle zu.
    Carla ließ die kleine Gruppe von Helfern keine Sekunde aus den Augen, doch die Männer waren voll und ganz auf ihre Aufgabe konzentriert. Kurz darauf waren die beiden Frauen am Wrack des Mercedes vorbei. Der Lastwagen mit dem schweren Aufleger kam ihnen unendlich lang vor, doch als sie endlich sein Ende erreicht hatten, kam Carla eine Idee.
    Sie blieb stehen.
    »Was ist?«, raunte Ada.
    »Hier entlang.« Carla trat hinter dem Lastwagen auf die Straße. »Setz den Schrank ab«, flüsterte sie. »Leise.«
    Vorsichtig ließen sie den Schrank auf den Asphalt hinab.
    Ada flüsterte: »Sollen wir ihn etwa hierlassen?«
    Carla zog den Schlüssel aus der Tasche und schloss den Schrank auf. Dann hob sie den Blick. Soweit sie sehen konnte, waren die Männer noch immer um den Mercedes versammelt, knapp zehn Meter von ihnen entfernt.
    Carla öffnete die Schranktür.
    Joachim Koch starrte sie mit leerem Blick an, den Kopf in das blutige Handtuch gewickelt.
    »Lass ihn rausfallen«, sagte Carla.
    Die beiden Frauen kippten den Schrank. Die Leiche rollte heraus und blieb zwischen den Reifen liegen.
    Carla schnappte sich das blutige Handtuch, warf es in den Schrank und schloss die Tür. Die Tasche ließ sie neben der Leiche liegen; sie war froh, sie endlich los zu sein. Die beiden Frauen hoben den Schrank wieder an und gingen weiter.
    Jetzt fiel ihnen das Tragen sehr viel leichter.
    Als sie gut fünfzig Meter entfernt und im Dunkeln waren, hörte Carla eine Stimme von hinten rufen: »Verdammt, hier ist noch ein Opfer … Sieht aus wie ein Fußgänger, der überfahren wurde.«
    Carla und Ada bogen um die Ecke, und eine Woge der Erleichterung brach über Carla herein. Sie waren die Leiche losgeworden. Wenn sie es jetzt zurück nach Hause schafften, ohne Aufmerksamkeit zu erregen – und ohne dass jemand in den Schrank sah und das blutige Handtuch fand –, wären sie in Sicherheit. Dann würde es keine Mordermittlung geben. Joachim war bloß ein Fußgänger, der bei einem Verkehrsunfall während der Verdunkelung ums Leben gekommen war. Wäre er vom Lkw über die Straße geschleift worden, hätte er durchaus die gleichen Verletzungen erleiden können wie durch Adas Suppentopf. Ein guter Pathologe könnte den Unterschied vielleicht erkennen, aber niemand würde eine Autopsie für nötig halten.
    Carla dachte darüber nach, den Schrank einfach wegzuwerfen, entschied sich aber dagegen. Trotz des Handtuchs waren Blutflecken darin, und das allein könnte eine polizeiliche Untersuchungrechtfertigen. Nein, sie mussten den Schrank zurück nach Hause schleppen und sauber schrubben.
    Bis zur Haustür begegneten sie niemandem mehr.
    Sie stellten den Schrank im Flur ab. Ada holte das Handtuch heraus, legte es in die Spüle und ließ kaltes Wasser darüberlaufen. Carla empfand eine Mischung aus freudiger Erregung und Traurigkeit. Sie hatten den Plan der Nazis gestohlen, hatten dafür aber einen jungen Mann ermordet, der nicht von Natur aus schlecht, sondern einfach nur dumm gewesen war. Sie würde noch sehr lange darüber nachdenken. Jetzt aber war sie einfach nur müde.
    Carla erzählte ihrer Mutter, was sie getan hatten. Mauds linke Wange war so stark geschwollen, dass ihr Auge fast geschlossen war, und sie hielt sich noch immer die linke Seite. Sie sah furchtbar aus.
    »Du warst sehr tapfer, Mutter«, sagte Carla. »Ich bewundere dich für das, was du heute getan hast.«
    Maud erwiderte müde: »Ich fühle mich aber nicht so, als müsstest du mich bewundern. Ich schäme mich. Ich verachte mich selbst.«
    »Weil du ihn nicht geliebt hast?«, fragte Carla.
    »Nein«, antwortete Maud, »im Gegenteil.«

K A P I T E L  1 4
    1942 (III)
    Greg

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