Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
gehörte Leó Szilárd, der als Erster die Möglichkeit einer nuklearen Kettenreaktion vorhergesagt hatte. Szilárd war ein ungarischer Jude, der an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin studiert und gelehrt hatte – bis zum verhängnisvollen Jahr 1933. Die Chicagoer Forschungsgruppe wurde von Enrico Fermi geleitet, dem italienischen Physiker. Fermi, dessen Frau Jüdin war,hatte Italien verlassen, als Mussolini sein rassistisches und antisemitisches Manifesto della razza veröffentlichte.
Greg fragte sich, ob den Faschisten klar war, dass sie ihren Gegnern durch ihren Rassismus eine Vielzahl brillanter Wissenschaftler in die Arme getrieben hatten.
Die physikalischen Zusammenhänge zu begreifen bereitete ihm keine Mühe. Die Theorie Fermis und Szilárds besagte, dass die Kollision eines Neutrons mit einem Uranatom mindestens zwei Neutronen produzierte, die wiederum mit weiteren Uranatomen kollidieren und eine Kaskade freisetzen konnten. Szilárd hatte diesen Prozess als Kettenreaktion bezeichnet – eine brillante Umschreibung.
Auf diese Weise konnte eine Tonne Uran so viel Energie freisetzen wie drei Millionen Tonnen Kohle, zumindest in der Theorie. Praktische Erfahrungen gab es noch nicht.
Fermi und seine Gruppe bauten einen Uranreaktor in Stagg Field, einem ehemaligen Footballstadion der Universität Chicago. Damit das Uran nicht spontan explodierte, wurde es in Grafit eingebettet, das Neutronen absorbierte und die Kettenreaktion zum Stillstand brachte. Das Ziel war, die Kernreaktion sehr langsam zu beschleunigen, bis mehr Neutronen produziert als verbraucht wurden; damit wäre dann der Beweis erbracht, dass tatsächlich eine Kettenreaktion stattfand. Anschließend sollte der Reaktor heruntergefahren werden, um der Gefahr vorzubeugen, dass er explodierte und das Stadion, die Universität und womöglich ganz Chicago in Schutt und Asche legte.
Bislang hatte die Arbeitsgruppe keinen Erfolg erzielt.
Greg verfasste eine wohlwollende Zusammenfassung des Berichts, bat Margaret Cowdry, alles abzutippen, und legte Groves das Schriftstück vor.
Der General las den ersten Absatz und fragte: »Wird es klappen?«
»Wissen Sie, Sir …«
»Keine Ausflüchte. Sie sind der Wissenschaftler hier. Wird es klappen?«
»Jawohl, Sir.«
»Gut«, sagte Groves und warf die Zusammenfassung in den Papierkorb.
Greg kehrte an seinen Schreibtisch zurück und saß eine Zeit lang da, den Blick auf das Periodensystem der Elemente gerichtet, das an der Wand gegenüber hing. Doch seine Gedanken galten nicht dem Reaktor; er war sich ziemlich sicher, dass er funktionierte. Greg beschäftigte vielmehr die Frage, wie er seinen Vater dazu bringen konnte, die Drohung gegen Jacky zurückzunehmen.
Zunächst hatte er sich überlegt, das Problem so anzugehen, wie sein Vater es getan hätte. Jetzt dachte er über die praktischen Details nach. Er musste eine dramatische Szene herbeiführen.
Sein Plan nahm immer deutlicher Gestalt an.
Aber würde er den Mumm haben, seinem Vater die Stirn zu bieten?
Gegen fünf Uhr machte er Feierabend. Auf dem Weg nach Hause ging er in ein Friseurgeschäft und kaufte ein Rasiermesser, dessen Klinge in den Griff eingeklappt werden konnte. »Bei Ihrem Bart werden Sie damit zufriedener sein als mit einem Sicherheitsrasierer«, sagte der Friseur.
Da mochte er recht haben, aber Greg hatte nicht die Absicht, sich mit dem Messer zu rasieren.
Er wohnte in der Suite des Ritz-Carlton, die sein Vater gemietet hatte. Als er dort eintraf, tranken Lev und Gladys Cocktails.
Greg erinnerte sich, wie er Gladys genau hier vor sieben Jahren zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte auf der gleichen gelben Seidencouch gesessen. Heute war sie ein noch größerer Star. Lev hatte eine Reihe lächerlich übertriebener Kriegsfilme mit ihr gedreht, in denen sie die Pläne hohntriefender Nazis vereitelte, sadistische Japaner übertölpelte und hartgesichtige verwundete US -Piloten aufpäppelte.
Gladys war nicht mehr so strahlend schön wie mit zwanzig. Ihre Haut hatte die makellose Glätte verloren, ihr Haar glänzte nicht mehr so faszinierend, und sie trug einen Büstenhalter, den sie früher zweifellos verschmäht hätte. Doch in ihren dunkelblauen Augen lag noch immer eine Verlockung, der man unmöglich widerstehen konnte.
Greg ließ sich einen Martini geben und setzte sich. Konnte er seinen Vater wirklich in die Schranken weisen? Seit er Gladys vor sieben Jahren zum ersten Mal die Hand geschüttelt hatte, hatte er es nicht
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