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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ging ins Haus und hielt dem Hund seine linke Faust hin. Der Hund schnüffelte vorsichtig daran und erteilte ihm die vorläufige Erlaubnis, einzutreten. Greg folgte Jacky in die kleine Küche.
    »Heute ist Allerheiligen«, sagte er. »Bist du deshalb in der Kirche gewesen?«
    »Wir gehen jeden Sonntag zur Kirche«, erwiderte Jacky.
    »Dieser Tag steckt wirklich voller Überraschungen«, sagte Greg.
    Jacky zog dem Jungen den Mantel aus, setzte ihn an den Tisch und gab ihm ein Glas Orangensaft. Greg setzte sich ihm gegenüber. »Wie heißt du?«, fragte er.
    »Georgy.« Der Junge sprach leise, aber ohne Schüchternheit oder gar Angst. Greg betrachtete ihn. Er war so hübsch wie seine Mutter und hatte den gleichen bogenförmigen Mund, aber seine Haut war heller, wie Milchkaffee, und er hatte grüne Augen, die im Gesicht eines Schwarzen ungewöhnlich wirkten. Ein klein wenig erinnerte er Greg an seine Halbschwester Daisy. Georgy erwiderte Gregs Blick mit einer Intensität, die beinahe einschüchternd wirkte.
    »Wie alt bist du, Georgy?«
    Hilfe suchend blickte der Junge seine Mutter an. Sie bedachte Greg mit einem merkwürdigen Blick und sagte: »Er ist sechs.«
    »Sechs!«, rief Greg. »Du bist ja wirklich schon ein großer Junge. Wieso …«
    Er verstummte, als ihm ein verrückter Gedanke kam. Georgywar vor sechs Jahren geboren worden. Greg und Jacky hatten vor sieben Jahren ein Verhältnis gehabt.
    Ihm stockte das Herz. Er starrte Jacky an. »Das kann doch nicht sein«, sagte er.
    Sie nickte. »Er wurde im Mai 1936 geboren. Achteinhalb Monate, nachdem ich die kleine Wohnung in Buffalo verlassen hatte.«
    »Weiß mein Vater davon?«
    »Himmel, nein. Dann wäre ich ja noch mehr in seiner Hand gewesen.«
    Ihre Feindseligkeit war mit einem Mal verschwunden; nun wirkte sie nur noch verletzlich. Greg sah einen flehentlichen Ausdruck in ihren Augen, konnte ihn aber nicht deuten.
    Wieder betrachtete er Georgy: die helle Haut, die grünen Augen, die merkwürdige Ähnlichkeit mit Daisy.
    Bist du mein Sohn? , dachte er. Kann das wirklich sein?
    In seinem Innern wusste er, dass es so war.
    Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn. Plötzlich erschien Georgy ihm schrecklich verletzlich, ein hilfloses Kind in einer grausamen Welt, um das er sich kümmern und das er beschützen musste. Am liebsten hätte er den Jungen in die Arme geschlossen, aber damit hätte er ihn womöglich erschreckt, also hielt er sich zurück.
    Georgy setzte das Glas Orangensaft ab, stand auf, kam um den Tisch herum, blieb nahe vor Greg stehen, betrachtete ihn mit seinem bemerkenswert direkten Blick und fragte: »Wer bist du?«
    Bei einem Kind konnte man sich auf eins verlassen: Es stellte die schwierigste Frage immer zuerst. Was sollte er antworten? Die Wahrheit überforderte einen Sechsjährigen. Ich bin nur ein alter Freund deiner Mutter, dachte er; ich bin zufällig vorbeigekommen und dachte, ich sag mal Guten Tag. Nichts Besonderes. Vielleicht sehen wir uns noch mal, wahrscheinlich aber nicht.
    Greg blickte Jacky an und sah, wie der flehentliche Ausdruck in ihren Augen intensiver wurde. Er begriff, was ihr durch den Kopf ging: Sie hatte Angst, er könnte Georgy zurückstoßen.
    »Ich sag dir was.« Greg setzte sich den Jungen auf die Knie. »Warum nennst du mich nicht Onkel Greg?«

    Bibbernd stand Greg auf der Zuschauertribüne eines ungeheizten Squashcourts. Hier, am Westende des unbenutzten Stadions am Rande des Chicagoer Universitätsgeländes, hatten Fermi und Szilárd ihren Kernreaktor errichtet, den ersten Reaktor, der jemals gebaut worden war. Greg war beeindruckt; zugleich hatte er Angst vor dem Ungetüm.
    Der Meiler war ein Würfel aus schwarzgrauen Ziegeln, der fast bis zur Decke und zur Rückwand der Halle reichte, die noch immer mit den Abdrücken Hunderter Squashbälle getupft war. Der Meiler hatte eine Million Dollar gekostet, und er konnte die ganze Stadt in die Luft jagen.
    Grafit – das Material, aus dem Bleistiftminen bestanden – erzeugte einen schwarzen Staub, der Boden und Wände bedeckte. Jeder, der sich eine Zeit lang in der Halle aufhielt, bekam ein Gesicht wie ein Bergmann, und einen sauberen Labormantel besaß niemand mehr.
    Grafit war allerdings nicht der Explosivstoff; ganz im Gegenteil diente er zur Eindämmung der Kernreaktion. In einige Ziegel jedoch waren Löcher gebohrt und mit Uranoxid gefüllt worden. Dieses Material strahlte die Neutronen ab. Zehn Kanäle für Kontrollstäbe durchzogen den Meiler, dreizehn Fuß lange

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