Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Stäbe aus Kadmium, einem Metall, das Neutronen noch gieriger schluckte als Grafit. Im Augenblick sorgten die Stäbe dafür, dass im Innern des Meilers alles ruhig blieb. Zog man sie jedoch aus dem Meiler heraus, begann die Kernreaktion.
Das Uran gab jetzt schon seine tödliche Strahlung ab, doch der Grafit und das Kadmium absorbierten sie. Die Strahlungsmenge wurde mit Geigerzählern gemessen, die bedrohlich knackten und knisterten, und einem Trommelschreiber, der gnädig leise lief. Die Steuer- und Messinstrumente neben Greg waren das Einzige auf der Tribüne, was Wärme abgab.
Greg besuchte Chicago am Mittwoch, dem 2. Dezember 1942, einem bitterkalten, windigen Tag. Heute sollte im Meiler zum ersten Mal die selbsterhaltende Kernreaktion durchgeführt werden. Greg war anwesend, um das Experiment im Namen seines Vorgesetzten, General Groves, zu beobachten. Jedem, der fragte, deutete er spitzbübisch an, dass Groves eine Explosion befürchte und ihn, Greg, herbefohlen habe, um das Risiko zu übernehmen.In Wahrheit hatte Greg einen ganz anderen Auftrag: Er sollte im Hinblick darauf, wer ein Sicherheitsrisiko darstellen konnte, eine vorläufige Einstufung der Wissenschaftler vornehmen.
Die Absicherung des Manhattan-Projekts war ein Albtraum. Die leitenden Wissenschaftler waren ausnahmslos Ausländer. Die meisten anderen standen politisch links und waren entweder Kommunisten oder Liberale mit kommunistischen Freunden. Wäre jeder, der verdächtig war, gefeuert worden, hätte das Projekt praktisch ohne Wissenschaftler dagestanden. Greg hatte den Auftrag, herauszufinden, wer die größten Risikokandidaten waren.
Enrico Fermi war um die vierzig, ein kleiner, kahl werdender Mann mit Römernase, gekleidet in einen eleganten Anzug mit Weste. Er lächelte gewinnend, während er sein beängstigendes Experiment überwachte. Am Vormittag befahl er den Beginn des Testlaufs.
Er wies einen Techniker an, bis auf einen sämtliche Kontrollstäbe aus dem Meiler zu ziehen.
»Was denn, alle auf einmal?«, fragte Greg. Die Verfahrensweise erschien ihm beängstigend übereilt.
Der Wissenschaftler neben ihm, Barney McHugh, erklärte: »Keine Bange. So weit sind wir gestern Abend schon gekommen. Lief prima.«
»Freut mich zu hören«, entgegnete Greg säuerlich.
Der bärtige, pummelige McHugh stand weit unten auf Gregs Verdächtigenliste. Er war Amerikaner und interessierte sich nicht für Politik. Das Einzige, was man bei ihm im Auge behalten musste, war seine ausländische Frau. Sie war Britin – kein gutes Zeichen, aber noch kein Beweis für Verrat.
Greg hatte angenommen, dass es irgendeinen ausgeklügelten Mechanismus gab, der die Kadmiumstäbe bewegte, doch es war alles sehr viel primitiver: Der Techniker lehnte eine Leiter an den Meiler, kletterte auf halbe Höhe und zog die Stäbe mit der Hand heraus.
Beiläufig sagte McHugh: »Ursprünglich wollten wir die Anlage im Argonne Forest errichten.«
»Wo ist das?«
»Zwanzig Meilen südwestlich von Chicago. Ziemlich abgelegen. Da gäb’s weniger Opfer, falls etwas schiefgeht.«
Greg schauderte. »Und warum haben Sie sich für diese Halle hier entschieden?«
»Die Bauarbeiter sind in den Streik getreten, deshalb mussten wir das Scheißding selbst zusammenbasteln. Und wir konnten nicht so weit von den Labors weg.«
»Sie haben das Risiko in Kauf genommen, die Bevölkerung von ganz Chicago umzubringen?«
»Wir glauben nicht, dass es so weit kommt.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, sagte Greg. Er glaubte es zwar auch nicht, aber jetzt, ein paar Schritte von dem Meiler entfernt, hatte er ein mulmiges Gefühl.
Fermi verglich seine Messwerte mit einer im Vorfeld erstellten Prognose des zu erwartenden Strahlungsniveaus in jedem Stadium des Experiments. Offenbar verlief der erste Schritt nach Plan, denn nun befahl Fermi, auch den letzten Kadmiumstab aus den Grafitziegeln herauszuziehen.
Die Physiker hatten einige Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Ein mit einem Bleigewicht beschwerter Stab hing über dem Meiler und sollte automatisch hineinfallen, falls die Strahlung zu stark anstieg. Da dies seine Zeit dauern würde, war ein weiterer Kadmiumstab mit einem Seil am Geländer der Tribüne befestigt. Ein junger Physiker, der aussah, als käme er sich ein wenig albern vor, stand mit einer Feuerwehraxt über der Schulter bereit, das Seil im Notfall zu kappen. Drei weitere Wissenschaftler, die »das Selbstmordkommando« genannt wurden, standen dicht unter der Hallendecke auf der
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