Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Plattform des Aufzugs, der zum Aufbau des Meilers benutzt worden war, und hielten große Behälter mit Kadmiumsulfatlösung bereit, die sie im Notfall auf den Meiler schütten sollten, als würden sie einen Scheiterhaufen löschen.
Greg wusste, dass die Neutronenerzeugung sich binnen einer Tausendstelsekunde vervielfachte. Fermi führte jedoch an, dass einige Neutronen länger bräuchten, vielleicht sogar mehrere Sekunden. Wenn Fermi recht hatte, gab es keine Probleme. Wenn er sich irrte, wären die Leute mit dem Kadmiumsulfat und der Mann mit der Axt verglüht, ehe sie blinzeln konnten.
Greg hörte, wie das Knacken und Prasseln der Geigerzähler immer lauter und schneller wurde. Er blickte besorgt zu Fermi, der mit einem Rechenschieber hantierte. Fermi sah zufrieden aus.Na ja, sagte sich Greg, wenn die Sache schiefläuft, geht es wahrscheinlich so schnell, dass wir nichts davon merken.
Das Knacken stabilisierte sich. Fermi lächelte und erteilte den Befehl, den Stab noch einmal sechs Zoll aus dem Meiler zu ziehen.
Weitere Wissenschaftler kamen in die Halle und stiegen in ihrer dicken Chicagoer Winterkleidung mitsamt Mänteln, Hüten, Schals und Handschuhen die Treppe zur Tribüne hinauf. Greg war fassungslos über die Sicherheitsmängel. Niemand kontrollierte die Ausweise; jeder dieser Männer hätte für die Deutschen spionieren können.
Unter ihnen erkannte Greg den großen Szilárd, hochgewachsen und massig, mit rundem Gesicht und dichtem, lockigem Haar. Leó Szilárd war ein Idealist, der davon träumte, dass die Kernkraft den Menschen eines Tages von harter körperlicher Arbeit befreien würde. Deshalb hatte er sich der Gruppe, die die fürchterliche Uranbombe entwickeln sollte, nur schweren Herzens angeschlossen.
Der Stab wurden weitere sechs Zoll herausgezogen. Das Knacken und Prasseln wurde noch lauter.
Greg blickte auf die Uhr. Halb zwölf.
Plötzlich gab es einen lauten Krach. Alles fuhr zusammen.
»Scheiße«, fluchte McHugh.
»Was ist passiert?«, fragte Greg.
»Die Strahlung hat den Sicherheitsmechanismus ausgelöst, und der Notstab ist runtergefallen«, antwortete McHugh.
Mit starkem italienischem Akzent verkündete Fermi: »Ich bin hungrig. Gehen wir Mittag essen.«
Greg konnte es nicht fassen. Wie konnten diese Leute jetzt an Lunch denken? Aber niemand erhob einen Einwand.
»Man weiß nie, wie lange ein Experiment dauert«, sagte McHugh. »Könnte den ganzen Tag gehen. Da sollte man essen, sobald man die Gelegenheit hat.«
Sämtliche Kontrollstäbe wurden in den Meiler zurückgeschoben und gesichert; dann brachen alle auf. Die meisten gingen in eine Mensa auf dem Campus, auch Greg. Er saß neben einem ernsten Physiker namens Wilhelm Frunze am Tisch und aß ein mit Käse überbackenes Sandwich. Die meisten Wissenschaftler waren nachlässig gekleidet, aber Frunze stach selbst unter ihnen noch negativ hervor: Er trug einen grünen Anzug mit Besätzen ausbraunem Wildleder – Knopflöcher, Kragenrand, Ellbogenflicken, Taschenklappen. Frunze stand ganz oben auf Gregs Liste der Verdächtigen. Er war Deutscher, hatte Mitte der Dreißigerjahre seine Heimat verlassen und war nach London gegangen. Frunze war Nazi-Gegner, aber kein Kommunist; politisch stand er den Sozialdemokraten nahe. Er hatte eine amerikanische Künstlerin geheiratet. Als Greg sich mit ihm unterhielt, konnte er keinen Grund zum Misstrauen entdecken. Wilhelm Frunze schien das Leben in Amerika zu lieben und sich außer für seine Arbeit nur für wenige andere Dinge zu interessieren. Doch bei Ausländern konnte man nie sicher sein, wem ihre Loyalität gehörte.
Nach dem Lunch stand Greg im verwaisten Stadion, blickte auf die Tausende leerer Plätze und dachte an Georgy. Er hatte bisher niemandem anvertraut, dass er Vater war, nicht einmal Margaret Cowdry, mit der er mittlerweile eine intime Beziehung eingegangen war. Doch Greg sehnte sich danach, seine Mutter einzuweihen. Er war stolz auf den Jungen, auch wenn er keinen Grund dazu hatte; schließlich hatte er nichts getan, um Georgy auf die Welt zu bringen, sah man davon ab, dass er mit Jacky geschlafen hatte, und dazu hatte man ihn nun wirklich nicht überreden müssen. Vor allem war Greg aufgeregt, stand er doch am Anfang eines Abenteuers: Georgy würde aufwachsen, würde lernen und sich verändern und eines Tages ein Mann werden – und Greg würde Zeuge dieses Wunders werden.
Um zwei Uhr kehrten die Wissenschaftler an die Arbeit zurück. Auf der Tribüne mit den
Weitere Kostenlose Bücher