Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
die BBC verschlüsselte Nachrichten, die im besetzten Frankreich einen Sabotagefeldzug einleiteten. Während der ersten Junitage wurden Hunderte von Telefonkabeln zerschnitten, meist an schwer zugänglichen Stellen. Treibstofflager wurden in Brand gesetzt, Straßen mit Bäumen versperrt, Reifen aufgeschlitzt.
Lloyd half der Résistance-Fer, die vor allem aus Eisenbahnern bestand und kommunistisch orientiert war. Jahrelang hatte sie die Deutschen mit ihren findigen Aktionen in den Wahnsinn getrieben. Deutsche Truppentransporte wurden manchmal viele Meilen weit in die falsche Richtung auf abgelegene Nebenstrecken umgeleitet. Lokomotiven fielen unerklärlicherweise aus, und Waggons entgleisten. Als es schlimmer kam, holte die Besatzungsmacht deutsche Eisenbahner nach Frankreich, die den Betrieb übernahmen. Doch die Störungen verstärkten sich weiter. Im Frühjahr 1944 begannen die Eisenbahner, das eigene Schienennetz zu beschädigen. Sie sprengten Gleise in die Luft und sabotierten die Schwerlastkräne, die gebraucht wurden, um verunglückte Züge zu bewegen.
Die Deutschen sahen nicht tatenlos zu. Hunderte von Eisenbahnern wurden hingerichtet, Tausende in Lager verschleppt. Dennoch nahm die Sabotage zu. Am D-Day, dem Tag der Landung, war in einigen Teilen Frankreichs der Eisenbahnverkehr zum Erliegen gekommen.
Heute, an D-Day+1, lag Lloyd neben der Haupttrasse nach Rouen, der Hauptstadt der Normandie, auf der Kuppe eines Damms. Von dort hatte er die Stelle in Sicht, wo die Gleise in einem Tunnel verschwanden, und konnte näher kommende Züge auf eine Meile Entfernung ausmachen.
Lloyd wurde von zwei Franzosen mit den Decknamen Légionnaire und Cigare begleitet. Légionnaire war der Anführer derRésistance in dieser Gegend, Cigare war Eisenbahner. Lloyd hatte das Dynamit mitgebracht. Die Briten unterstützten die französische Résistance vor allem durch die Lieferung von Waffen und Sprengstoff.
Die drei Männer lagen verborgen im hohen Gras, in dem Wildblumen wuchsen. An einem schönen Tag wie diesem sollte man hier mit einer hübschen Frau picknicken, überlegte Lloyd. Daisy würde es hier gefallen.
Dann erschien ein Zug in der Ferne. Cigare behielt ihn im Auge, als er näher kam. Der Eisenbahner war um die sechzig, drahtig und klein; er hatte das gefurchte Gesicht eines schweren Rauchers. Als der Zug noch eine Viertelmeile entfernt war, schüttelte er verneinend den Kopf: Das war nicht der, auf den sie warteten. Die Lok donnerte fauchend vorbei und verschwand im Tunnel. Sie zog vier voll besetzte Passagierwaggons, in denen Zivilisten und Uniformierte saßen. Doch Lloyd hatte es auf fettere Beute abgesehen.
Légionnaire schaute auf die Armbanduhr. Er hatte dunkle Haut und einen schwarzen Schnurrbart. Lloyd vermutete, dass es unter seinen Ahnen einen Nordafrikaner gab. Jetzt war er unruhig. Sie lagen hier, unter freiem Himmel und bei Tageslicht, wie auf dem Präsentierteller. Je länger sie blieben, desto größer die Gefahr ihrer Entdeckung.
»Wie lange noch?«, fragte Lloyd nervös.
Cigare zuckte mit den Schultern. »Das sehen wir dann.«
Lloyd sagte auf Französisch: »Ihr könnt jetzt gehen, wenn ihr wollt. Alles ist bereit.«
Légionnaire würdigte ihn keiner Antwort. Er wollte sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Um seines Prestiges und seiner Autorität willen musste er behaupten können, er sei dabei gewesen.
Cigare spähte angestrengt in die Ferne. Fältchen zeigten sich in seinen Augenwinkeln. »So«, sagte er schließlich und erhob sich auf die Knie.
Lloyd konnte den Zug kaum sehen, geschweige denn identifizieren, doch Cigare entging nichts. Der Zug fuhr erheblich schneller als der vorherige. Als er näher kam, war zu sehen, dass er auch länger war; es waren wenigstens zwei Dutzend Waggons.
»Das ist er«, sagte Cigare.
Lloyds Puls ging schneller. Wenn Cigare recht hatte, handeltees sich um einen deutschen Truppentransporter, der mehr als tausend Mann zu den Schlachtfeldern in der Normandie schaffen sollte. Vielleicht war er der erste von vielen solcher Züge. Lloyds Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass weder dieser noch einer der folgenden Züge durch den Tunnel kam.
Dann entdeckte er etwas anderes: Ein Flugzeug folgte dem Zug. Die Maschine glich ihren Kurs an und ging tiefer.
Das Flugzeug war britisch.
Lloyd erkannte es als eine Hawker Typhoon, auch »Tiffy« genannt, ein einsitziger Jagdbomber. Tiffys erhielten oft den gefährlichen Auftrag, weit hinter den feindlichen
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