Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Donnerstag, dem 12. April 1945, war er im Kapitol, dem Sitz des Senats und des Repräsentantenhauses. Langsam hinkte er durch das Kellergeschoss und besprach mit seinem Vater die Flüchtlingsfrage.
»Wir nehmen an, dass in Europa etwa einundzwanzig Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden«, sagte Gus.»Die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen steht bereit, ihnen zu helfen.«
»Ich nehme an, sie werden bald damit anfangen können«, sagte Woody. »Die Rote Armee ist fast schon in Berlin.«
»Und die US Army steht nur fünfzig Meilen entfernt.«
»Wie lange kann Hitler noch durchhalten?«
»Wäre er bei Verstand, hätte er längst kapituliert.«
Woody senkte die Stimme. »Jemand hat mir berichtet, dass die Russen eine Art Vernichtungslager entdeckt haben. Die Nazis haben dort jeden Tag Hunderte von Menschen ermordet. An einem Ort namens Auschwitz in Polen.«
Gus nickte grimmig. »Es ist wahr. Die Öffentlichkeit weiß noch nichts davon, aber früher oder später wird sie es erfahren.«
»Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Die UN -Kommission für Kriegsverbrechen ist seit zwei Jahren an der Arbeit. Sie sammelt Beweise und erstellt Listen von Kriegsverbrechern. Diese Leute werden vor Gericht gestellt, Woody, vorausgesetzt, wir können die Vereinten Nationen nach dem Krieg am Leben erhalten.«
»Natürlich können wir das«, sagte Woody zuversichtlich. »Roosevelt hat letztes Jahr seinen Wahlkampf darauf aufgebaut, und er hat die Wahl gewonnen. In zwei Wochen wird in San Francisco die UN -Konferenz eröffnet.« San Francisco hatte für Woody eine besondere Bedeutung, weil Bella Hernandez dort wohnte, aber er hatte seinem Vater noch nicht von ihr erzählt. »Das amerikanische Volk will eine internationale Zusammenarbeit, damit es nie wieder einen Krieg gibt wie diesen. Wer könnte dagegen sein?«
»Du wärst überrascht. Die meisten Republikaner sind anständige Leute, sie sehen die Welt nur mit anderen Augen als wir. Es gibt aber auch einen harten Kern gottverdammter Idioten.«
Woody war erstaunt. Sein Vater benutzte Kraftausdrücke nur sehr selten.
»Ich rede von den Irren, die in den Dreißigerjahren einen Aufstand gegen Roosevelt geplant haben«, fuhr Gus fort. »Geschäftsleute wie Henry Ford, die Hitler für einen starken antikommunistischen Politiker hielten. Heute unterstützen sie rechtsextreme Gruppierungen wie America First.«
Woody konnte sich nicht erinnern, seinen Vater schon einmal so wütend erlebt zu haben.
»Wenn sie ihren Willen durchsetzen, gibt es einen dritten Weltkrieg, der noch schlimmer ist als die ersten beiden«, fuhr Gus fort. »Ich habe im Krieg einen Sohn verloren, und wenn ich je einen Enkel habe, will ich ihn nicht auch noch verlieren.«
Woody durchfuhr ein Stich der Trauer.
Wäre Joanne noch am Leben, hätte sie ihm Kinder und seinem Vater die ersehnten Enkel geschenkt. Doch im Augenblick hatte er nicht einmal eine Freundin; deshalb lag der Gedanke an Enkel in weiter Ferne … es sei denn, es gelang ihm, in San Francisco Bella aufzustöbern.
»Gegen Schwachköpfe sind wir machtlos«, fuhr Gus fort, »aber vielleicht werden wir mit Senator Vandenberg fertig.«
Arthur Vandenberg war ein Republikaner aus Michigan, ein konservativer Gegner von Roosevelts New Deal. Er saß mit Gus im Außenausschuss des Senats.
»Vandenberg ist die größte Gefahr für uns«, sagte Gus. »Er mag ein aufgeblasener Wichtigtuer sein, aber er genießt Respekt. Der Präsident hat ihn umworben, und er hat sich unseren Standpunkten angeschlossen. Trotzdem könnte er einen Rückzieher machen.«
»Warum?«
»Er ist ein unbeirrbarer Antikommunist.«
»Das sind wir auch.«
»Ja, aber Arthur ist in dieser Hinsicht stur wie ein Esel. Er wird stinksauer sein, wenn wir etwas tun, das er als Kniefall vor Moskau betrachtet.«
»Zum Beispiel?«
»Gott allein weiß, welche Kompromisse wir in San Francisco eingehen müssen. Wir mussten bereits zustimmen, dass Weißrussland und die Ukraine als eigene Staaten akzeptiert werden, was Moskau in der Generalversammlung drei Stimmen verschafft. Natürlich müssen wir die Sowjets an Bord halten, aber wenn wir es zu weit treiben, könnte Arthur sich gegen das gesamte Projekt der Vereinten Nationen stellen. Dann weigert der Senat sich möglicherweise, die Vorlage zu ratifizieren, genau wie 1919, als es um den Völkerbund ging.«
»Unsere Aufgabe in San Francisco besteht also darin, die Sowjets bei
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