Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
selbst würde erst wieder froh sein, wenn er zurück in London war. Sein Kopf reagierte noch immer empfindlich auf jede Berührung, und seine Rippen schmerzten, wenn er sich im Bett umdrehte.
Ethel fragte Maud: »Warum kommt ihr nicht auch nach London? Die ganze Familie.«
Walter schaute seine Frau an. »Ja, vielleicht sollten wir das«, sagte er, aber Lloyd sah, dass er es nicht ernst meinte.
»Ihr habt getan, was ihr konntet«, sagte Ethel. »Ihr habt tapfer gekämpft, aber leider hat die andere Seite gesiegt.«
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Maud.
»Aber ihr seid in Gefahr!«
»So wie ganz Deutschland.«
»Wenn ihr nach London zieht, wird Fitz sich vielleicht erweichen lassen und euch helfen.«
Earl Fitzherbert, der Besitzer von Kohlebergwerken in Südwales, war einer der reichsten Männer Großbritanniens, wie Lloyd wusste.
»Er würde mir nicht helfen«, sagte Maud. »Fitz gibt niemals nach, das weißt du so gut wie ich.«
»Du hast recht«, sagte Ethel. Lloyd fragte sich, wie sie so sichersein konnte, bekam aber keine Gelegenheit, sie zu fragen, denn sie fuhr fort: »Aber mit deiner Erfahrung würdest du in London sofort eine Anstellung bei einer Zeitung bekommen.«
»Und was soll ich in London tun?«, fragte Walter.
»Was wirst du denn hier tun?«, entgegnete Ethel in ihrer typischen Offenheit. »Hat es Sinn, gewählter Abgeordneter in einem machtlosen Parlament zu sein?«
Lloyd verstand seine Mutter, war aber der Meinung, die von Ulrichs sollten bleiben. »Ich weiß, es wird hart«, sagte er, »aber wenn auch die letzten anständigen Leute vor dem Faschismus fliehen, wird er sich nur noch schneller ausbreiten.«
»Das tut er ohnehin«, sagte Ethel.
Maud erschreckte alle, als sie vehement hervorstieß: »Nein! Ich werde nicht gehen. Niemals! Ich weigere mich, Deutschland zu verlassen!«
Alle starrten sie an.
»Ich bin seit vierzehn Jahren Deutsche«, sagte sie. »Deutschland ist jetzt meine Heimat.«
»Aber du bist in England geboren …«, warf Ethel ein.
»Ein Staat besteht vor allem aus den Menschen, die darin leben«, sagte Maud. »Ich liebe England nicht. Meine Eltern sind vor langer Zeit gestorben, und mein Bruder hat mich verstoßen. Ich liebe Deutschland. Für mich ist Deutschland mein wunderbarer Mann Walter, mein irregeleiteter Sohn Erik, meine gescheite Tochter Carla, meine Zofe Ada und ihr behinderter Sohn, meine Freundin Monika und ihre Familie, meine Journalistenkollegen … Ich bleibe und werde gegen die Nazis kämpfen.«
»Du hast schon mehr als deinen Teil getan«, sagte Ethel sanft.
Mit bewegter Stimme entgegnete Maud: »Mein Mann hat sein Leben der Aufgabe gewidmet, Deutschland zu einem freien, blühenden Land zu machen. Ich will nicht der Grund dafür sein, dass er sein Lebenswerk aufgibt. Wenn er das verliert, verliert er seine Seele.«
Ethel blieb bei dem schmerzlichen Thema und ging so weit, wie nur eine alte Freundin es konnte: »Aber die Versuchung muss doch groß sein, deine Kinder in Sicherheit zu bringen …«
»Versuchung? Es ist ein Herzenswunsch, ein inniges Verlangen, eine tiefe Sehnsucht!« Maud brach in Tränen aus. »Carla hat Albträume von den Braunhemden, und Erik zieht diese kackbraune Uniform an, wann immer er die Gelegenheit hat.«
Lloyd erschrak. Er hatte eine gebildete Dame noch nie »Kack« sagen hören.
Maud fuhr fort: »Natürlich will ich nichts lieber, als die Kinder von hier fortbringen.« Lloyd sah, dass Maud hin- und hergerissen war. Sie knetete nervös ihre Hände, drehte den Kopf hin und her und sprach mit einer Stimme, die vor Unsicherheit zitterte. »Aber es wäre falsch, für sie und auch für uns. Ich werde nicht nachgeben. Es ist besser, Böses zu ertragen, als einfach nur danebenzustehen und gar nichts zu tun.«
Ethel legte Maud die Hand auf den Arm. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe. Wahrscheinlich war es dumm von mir. Ich hätte wissen müssen, dass du niemals davonläufst.«
»Nein, Ethel, ich bin froh, dass du gefragt hast«, sagte Walter, streckte den Arm aus und ergriff Mauds schmale Hände. »Die Frage stand die ganze Zeit unausgesprochen zwischen mir und Maud. Es war an der Zeit, dass wir uns ihr stellen.«
Lloyd schaute auf die ineinander verschränkten Hände auf dem Cafétisch. Er machte sich selten Gedanken über das Gefühlsleben der Generation seiner Mutter und der von Ulrichs – sie waren verheiratete Menschen mittleren Alters, das sagte eigentlich alles –, aber nun sah er, dass zwischen Walter und
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