Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Tochtersaß und den Buffalo Sentinel las. Alte Fotos von Olga Peshkov zeigten eine gertenschlanke Schönheit. Heute war sie eine triste, unförmige Erscheinung. Sie hatte das Interesse an ihrem Aussehen verloren. Mit Daisy ging sie allerdings auf ausgedehnte Einkaufstouren, wobei es ihr ziemlich gleichgültig war, wie viel sie ausgeben musste, damit ihre Tochter möglichst gut aussah.
Olga blickte von der Zeitung auf. »Ich weiß gar nicht, ob es die Damen so sehr stört, dass dein Vater Alkohol geschmuggelt hat, Liebes«, sagte sie. »Aber er ist ein russischer Einwanderer, und wenn er sich mal bequemt, einen Gottesdienst zu besuchen, geht er in die russisch-orthodoxe Kirche auf der Ideal Street. Das ist fast so schlimm, als wäre er Katholik.«
»Es ist so ungerecht«, sagte Eva.
»Ich sollte dich wohl warnen, dass sie Juden auch nicht besonders mögen«, warf Daisy ein. Eva war Halbjüdin. »Tut mir leid, wenn ich das so offen sage.«
»Du kannst die Dinge so offen aussprechen, wie du möchtest«, entgegnete Eva, »im Vergleich zu Deutschland kommt mir Amerika wie das Gelobte Land vor.«
»Diesem Eindruck dürfen Sie sich aber nicht zu sehr hingeben«, warnte Olga. »In dieser Zeitung hier steht, dass viele amerikanische Industrielle und Geschäftsleute Präsident Roosevelt hassen und Adolf Hitler bewundern. Und das stimmt. Daisys Vater ist einer von Hitlers Bewunderern.«
»Politik ist langweilig«, sagte Daisy. »Steht im Sentinel denn nichts Interessantes?«
»Doch. Muffie Dixon soll am britischen Hof vorgestellt werden.«
»Wie schön für sie«, sagte Daisy schnippisch. Sie konnte ihren Neid nicht verbergen.
Olga las vor: »Miss Muriel Dixon, Tochter des verstorbenen Charles ›Chuck‹ Dixon, der im Krieg in Frankreich gefallen ist, wird am nächsten Dienstag von der Frau des US -Botschafters, Mrs. Robert W. Bingham, im Buckingham Palace vorgestellt.«
Daisy hatte genug über Muffie Dixon gehört und wechselte das Thema. »In Paris war ich schon, aber nie in London. Und du, Eva?«
»Weder noch. Ich habe Deutschland zum ersten Mal verlassen, als ich nach Amerika gekommen bin.«
Olga sagte plötzlich: »Ach herrje!«
»Was ist?«, fragte Daisy.
Ihre Mutter knüllte die Zeitung zusammen. »Dein Vater hat Gladys Angelus mit ins Weiße Haus genommen.«
»Was!« Es war für Daisy wie ein Schlag ins Gesicht. »Aber er hat doch gesagt, ich soll mitkommen!«
Präsident Roosevelt hatte hundert Geschäftsleute zu einem Empfang geladen, um sie vom New Deal, seinem nationalen Wirtschaftsprogramm, zu überzeugen. Für Lev Peshkov kam Franklin D. Roosevelt auf der Skala der verachtenswertesten Kreaturen gleich nach den Kommunisten; nichtsdestotrotz hatte es ihm geschmeichelt, ins Weiße Haus gebeten zu werden. Doch Olga hatte sich geweigert, ihn zu begleiten, und ihm wütend an den Kopf geworfen: »Ich werde dem Präsidenten der Vereinigten Staaten doch nicht vorgaukeln, dass wir eine normale Ehe führen!«
Offiziell wohnte Lev mit Frau und Tochter in dem stilvollen Prärie-Haus, das Großvater Vyalov errichtet hatte, doch er verbrachte sehr viel mehr Nächte in einem protzigen Apartment in der Innenstadt, in dem er seine langjährige Geliebte Marga untergebracht hatte. Außerdem ging das Gerücht, er habe eine Affäre mit Gladys Angelus, dem größten Star seines Filmstudios. Deshalb konnte Daisy nur zu gut verstehen, dass ihre Mutter sich verschmäht fühlte. Auch Daisy empfand es jedes Mal als Zurücksetzung, wenn Lev wegfuhr, um den Abend mit seiner zweiten Familie zu verbringen.
Doch als Lev sie gefragt hatte, ob sie ihn anstelle ihrer Mutter ins Weiße Haus begleiten wolle, hatte sie begeistert zugesagt und überall verkündet, sie werde bald Präsident Roosevelt besuchen. Keiner ihrer Freunde war dem Präsidenten persönlich begegnet, außer den Dewar-Jungs; aber deren Vater war schließlich Senator.
Lev hatte Daisy allerdings keinen genauen Termin genannt, und sie war davon ausgegangen, er würde es ihr in letzter Sekunde mitteilen; das wäre typisch für ihn. Nun aber hatte er es sich anders überlegt oder es schlichtweg vergessen. Daisy war den Tränen nahe.
»Tut mir leid, Liebes«, sagte Olga, »aber Versprechen haben deinem Vater noch nie viel bedeutet.«
Eva blickte Daisy mitfühlend an. Ihr eigener Vater war Tausende Kilometer von hier entfernt, und vielleicht sah sie ihn nie wieder.Trotzdem empfand sie Mitleid für Daisy, als wäre diese viel härter vom Schicksal getroffen worden.
In
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