Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
wählen. Und das Verbrechen blühte. Die Amerikaner selbst gaben zu, dass es allmählich überhandnahm. Seltsamerweise fand Wolodja keinerlei Hinweise darauf, im Gegenteil: Er fühlte sich sicher, durch die Straßen zu schlendern.
Ein paar Tage lang erkundete er New York. Er arbeitete an seinem Englisch, das nicht sonderlich gut war; aber das spielte keine große Rolle: In der Stadt wimmelte es von Menschen, die nur gebrochen Englisch sprachen, obendrein mit starkem Akzent. Die Gesichter der FBI -Agenten, die abgestellt waren, ihn zu beschatten, hatte Wolodja sich gemerkt. Er hatte auch schon ein paar Stellen entdeckt, an denen er sie würde abschütteln können.
An einem sonnigen Morgen verließ Wolodja das sowjetische Konsulat in New York, ohne Hut und Jackett, als wolle er nur rasch etwas erledigen. Ein junger Mann im dunklen Anzug folgte ihm.
Wolodja ging zum Kaufhaus Saks an der der Fifth Avenue und besorgte sich Unterwäsche und ein kariertes Hemd. Wer immer ihm folgte, glaubte vermutlich, er würde nur einkaufen.
Der Chef der NKWD -Vertretung im Konsulat hatte Wolodja mitgeteilt, dass ihn während seines gesamten Aufenthalts in den USA ein sowjetisches Team beschatten würde, um sicherzustellen, dass er sich gut benahm. Wolodja hatte seine Wut nur mühsam im Zaum halten können; schließlich hielt der NKWD Zoja in seinen Klauen. Er hätte dem Mann am liebsten den Hals umgedreht, doch er war ruhig geblieben. Er hatte nur spöttisch angemerkt, dass er das FBI würde abschütteln müssen, um seine Mission zu erfüllen; da könne es durchaus passieren, dass ihn dabei auch die NKWD -Agenten aus den Augen verloren. Tatsächlich brauchte er normalerweise keine fünf Minuten, um die NKWD -Leute abzuhängen.
Also handelte es sich bei dem jungen Mann, der Wolodja nun folgte, um einen Agenten des FBI . Seine streng konservative Kleidung erhärtete diese Vermutung.
Mit seinen Einkäufen in einer Papiertüte verließ Wolodja das Kaufhaus durch einen Nebeneingang und winkte ein Taxi heran. Sofort stand auch der FBI -Mann winkend am Straßenrand. Als das Taxi um zwei Ecken gebogen war und vor einer Ampel hielt, warf Wolodja dem Fahrer einen Geldschein zu und sprang hinaus. Er rannte in eine U-Bahn-Station, verließ sie durch einen anderen Ausgang und wartete fünf Minuten vor der Tür eines Bürogebäudes.
Der junge Mann in dem dunklen Anzug war nirgends zu sehen.
Wolodja ging zur Pennsylvania Station.
Dort versicherte er sich noch einmal, dass er nicht mehr verfolgt wurde; dann kaufte er sich eine Fahrkarte. Nur mit der Papiertüte und den Sachen, die er am Leib trug, stieg er in den Zug.
Die Fahrt nach Albuquerque dauerte drei Tage.
Der Zug rollte Meile um Meile durch fruchtbares Ackerland und vorbei an riesigen Fabriken und großen Städten mit Wolkenkratzern, die sich elegant gen Himmel reckten. Die Sowjetunion war flächenmäßig viel größer als die USA , bestand aber vorwiegend aus dichten Wäldern, Steppe, Tundra und Permafrost, sah man von der Ukraine ab. Bis jetzt hatte Wolodja sich ein solchblühendes, üppiges Land wie die Vereinigten Staaten nicht einmal vorstellen können.
Aber dieser materielle Reichtum war nicht alles. Es war die Freiheit, die Wolodja noch mehr imponierte: Hier fragte ihn niemand nach Papieren. Nachdem er in New York die Einreisekontrolle hinter sich gelassen hatte, hatte er seinen Pass nicht mehr zeigen müssen. Offenbar konnte in diesem Land jeder zu einem Bahnhof oder einem Überlandbus gehen, sich eine Fahrkarte kaufen und fahren, wohin er wollte, ohne einen Beamten um Erlaubnis bitten und ihm erklären zu müssen, wohin man fuhr und aus welchem Grund. Es war ein unbekanntes und aufregendes Gefühl, gehen zu können, wohin man wollte.
Amerikas Wohlstand verstärkte aber auch das Gefühl der Gefahr, die von diesem Land ausging. Die Deutschen hatten die Sowjetunion beinahe vernichtet, doch Amerika hatte eine dreimal so große Bevölkerung und war zehnmal so reich. Welche Kraft dieses Land haben musste! Die Vorstellung, die Russen könnten von den USA bedroht oder gar unterworfen werden, zerstreuten die Zweifel, die Wolodja hinsichtlich des Kommunismus entwickelt hatte. Er wollte nicht, dass seine Kinder – falls er irgendwann Kinder haben würde – in einer Welt aufwuchsen, die von Amerika tyrannisiert wurde.
Wolodja fuhr über Pittsburgh und Chicago, ohne auf irgendeine Weise aufzufallen. Seine Kleidung war amerikanisch, und seinen Akzent bemerkte niemand, da er mit
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