Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
waren ein wohlhabendes, kinderloses Paar, und Wolodja nahm an, dass sie den Freitagabend nicht daheim vor dem Radio verbringen würden. Also beschloss er, in der Nähe darauf zu warten, dass sie das Haus verließen.
Er verbrachte einige Zeit auf dem Gehsteig vor der Galerie und schaute sich die Gemälde an, die zum Verkauf standen. Sie gefielen ihm nicht. Es waren chaotische Mischungen aus Grau und Braun; Wolodja zog Bilder mit klaren Linien und lebhaften Farben vor.
Er ging in ein Café ein Stück die Straße hinunter und setzte sich an ein Fenster, von wo aus er die Haustür der Frunzes im Auge behalten konnte. Nach einer Stunde stand er auf, kaufte sich eineZeitung, stellte sich an die Bushaltestelle und tat so, als würde er lesen.
Das lange Warten bot ihm die Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, dass niemand außer ihm das Haus beobachtete. Das wiederum bedeutete, dass FBI und Heeresnachrichtendienst Frunze nicht als Risiko einstuften. Er war zwar Ausländer, aber das galt für viele Wissenschaftler hier; vermutlich war sonst nichts bekannt, was gegen ihn gesprochen hätte.
Endlich kamen die Frunzes aus dem Haus.
Wilhelm Frunze war deutlich kräftiger als vor zwölf Jahren, aber in den USA gab es ja auch keine Lebensmittelknappheit. Sein Haar lichtete sich, obwohl er erst dreißig war, und er blickte noch immer so ernst drein wie früher. Er trug ein Sporthemd und eine Kakihose, eine typische Kombination für Amerika.
Seine Frau war nicht so konservativ gekleidet. Sie hatte das blonde Haar unter einem Barett hochgesteckt und trug ein formloses Baumwollkleid in schlichtem Braun, unterschiedliche Armbänder an beiden Handgelenken und mehrere Ringe. Vor Hitlers Machtergreifung hatten sich auch in Deutschland Künstler so gekleidet, erinnerte sich Wolodja.
Das Paar machte sich auf den Weg die Straße hinunter. Wolodja folgte ihnen.
Er fragte sich, welche politische Einstellung die Frau hatte und ob es ein Problem sein würde, wenn sie bei dem Gespräch dabei war. Damals, in Deutschland, war Frunze eingefleischter Sozialdemokrat gewesen; deshalb war es eher unwahrscheinlich, dass seine Frau sich zu den Konservativen zählte. Andererseits wusste sie vermutlich nicht, dass ihr Mann in London Geheimnisse an die Sowjets verraten hatte. Wie auch immer, in jedem Fall stellte die Frau eine unbekannte Größe dar.
Wolodja hätte es vorgezogen, allein mit Frunze zu reden; deshalb erwog er, die beiden in Ruhe zu lassen und es morgen noch einmal zu versuchen. Doch der Empfangsdame im Hotel war sein ausländischer Akzent aufgefallen, und das wiederum hieß, dass er ab morgen vermutlich einen FBI -Schatten haben würde. Außerdem war morgen Samstag; also würden die Frunzes den Tag wahrscheinlich gemeinsam verbringen, ebenso den Sonntag. Wie lange würde er dann wohl noch darauf warten müssen, Frunze allein zu erwischen?
Es war keine leichte Entscheidung, doch nach sorgfältigem Abwägen beschloss Wolodja, noch heute Abend seinen Zug zu machen.
Die Frunzes gingen in ein Billigrestaurant.
Wolodja schlenderte daran vorbei und schaute durchs Fenster. Sollte er hineingehen und sich zu den beiden setzen? Er beschloss, sie erst einmal essen zu lassen. Satt würden sie in besserer Stimmung sein.
Wolodja wartete eine halbe Stunde und beobachtete die Tür des Restaurants aus sicherer Entfernung. Dann ging er hinein.
Die Frunzes beendeten gerade ihre Mahlzeit. Als Wolodja das Restaurant durchquerte, schaute Frunze kurz auf und wandte sich dann wieder ab. Er hatte ihn nicht erkannt.
Wolodja setzte sich neben Alice in die Nische und sagte leise auf Deutsch: »Hallo, Willi. Kennst du mich nicht mehr aus der Schule? Wir waren zusammen auf dem Ranke-Gymnasium.«
Frunze starrte ihn misstrauisch an; dann erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Peschkow? Wolodja Peschkow? Bist du es wirklich?«
Erleichterung überkam Wolodja. Frunze war ihm noch immer freundlich gesinnt; er musste also nicht erst eine Mauer der Feindseligkeit überwinden. »Ja, genau der.« Er streckte die Hand aus, und Frunze schüttelte sie. Wolodja blickte Alice an. »Ich spreche Ihre Sprache leider nicht sehr gut«, sagte er. »Tut mir leid.«
»Kein Problem«, erwiderte sie auf Deutsch. »Meine Familie kam ungefähr zur gleichen Zeit hier herüber wie die meines Mannes.«
Erstaunt bemerkte Frunze: »Ich habe in letzter Zeit oft an dich gedacht, Wolodja. Ich kenne da nämlich einen Greg Peshkov. Könnte er mit dir verwandt sein?«
»Schon möglich.
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