Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
bemerkte, dass Jimmy Murray diskret den Arm um Evas Taille legte. Sie rückte daraufhin etwas näher zu ihm; offenbar machte er ihr den Hof. Lloyd freute sich für Eva. Sie war keine Schönheit, aber charmant und intelligent. Er mochte sie und war froh, dass sie sich einen schneidigen Soldaten an Land gezogen hatte. Er fragte sich allerdings, wie die Londoner Oberschicht reagieren würde, wenn Jimmy bekannt gab, dass er eine deutsche Halbjüdin heiraten wollte.
Ihm kam der Gedanke, dass die anderen zwei weitere Pärchen bildeten: Andy und May und – ärgerlicherweise – Boy und Daisy. Nur er, Lloyd, hatte keine Begleiterin. Da er niemanden anstarren wollte, betrachtete er angelegentlich die Fensterrahmen aus Mahagoni.
Der Wagen fuhr den Ludgate Hill zur St. Paul’s Cathedral hinauf. »Nehmen Sie die Cheapside«, sagte Lloyd zum Fahrer.
Boy trank einen langen Zug aus einer silbernen Taschenflasche, wischte sich den Mund ab und sagte: »Sie kennen sich aus, Williams.«
»Ich wohne hier. Ich bin im Eastend geboren.«
»Vortrefflich«, erwiderte Boy. Lloyd war sich nicht sicher, ob er gedankenlos höflich oder unangenehm sarkastisch war.
Im Gaiety waren alle Sitzplätze belegt, aber Stehplätze gab es genügend. Das Publikum war ohnehin dauernd in Bewegung, begrüßte Freunde und ging an die Theke. Alle waren herausgeputzt, die Frauen in grellfarbenen Kleidern, die Männer in ihren besten Anzügen. Die warme, verräucherte Luft roch nach verschüttetem Bier. Im hinteren Teil fand Lloyd einen Platz für sich und dieanderen. Ihre Kleidung ließ sie als Besucher aus dem Westend erkennen, doch sie stachen nicht als Einzige heraus: Varietés waren in allen sozialen Schichten beliebt.
Auf der Bühne gab eine Künstlerin mittleren Alters mit rotem Kleid und blonder Perücke eine zweideutige Nummer zum Besten. »Ich sage zu ihm: ›Nein, ich lasse Sie nicht in meine Garage.‹« Das Publikum brüllte vor Lachen. »Sagt er zu mir: ›Ich seh sie von hier aus, Schätzchen.‹ Ich sag ihm: ›Stecken Sie da bloß nicht Ihre Nase rein.‹ Sagt er: ›Für mich sieht das aus, als müsste sie mal gut ausgeputzt werden.‹ Also wirklich! Das gibt’s doch nicht.«
Lloyd bemerkte, dass Daisy breit grinste. Er beugte sich zu ihr und murmelte ihr ins Ohr: »Haben Sie bemerkt, dass das ein Mann ist?«
»Nein!«
»Achten Sie auf seine Hände.«
»Ach du lieber Gott! Sie ist wirklich ein Mann!«
Lloyds Cousin David ging vorbei, entdeckte Lloyd und kam zurück. »Was seid ihr denn alle so aufgetakelt?«, fragte er mit Cockneyakzent. Er trug ein geknotetes Halstuch und eine Tuchmütze.
»Hallo, Dave, wie geht’s?«
»Ich gehe mit dir und Lenny Griffiths nach Spanien«, antwortete Dave.
»Nein, bestimmt nicht. Du bist erst fünfzehn.«
»Jungs in meinem Alter waren beim Großen Krieg dabei.«
»Aber sie waren zu nichts zu gebrauchen. Frag deinen Vater. Außerdem, wer sagt eigentlich, dass ich gehe?«
»Millie, deine Schwester«, antwortete Dave und ging weiter.
»Was trinken die Leute hier denn so, Williams?«, fragte Boy.
Lloyd war der Ansicht, dass Boy genug getrunken hatte, antwortete jedoch: »Die Männer ein Pint vom besten Bitterbier, die Frauen Port-and-Lemon.«
»Port-and-Lemon?«
»Das ist Portwein, verdünnt mit Limonade.«
»Wie ausgemacht abscheulich.« Boy verschwand.
Der Komiker erreichte den Höhepunkt seines Auftritts. »Sag ich zu ihm: ›Du Trottel, das ist die falsche Garage! ‹« Sie – oder er – trat ab, begleitet von tosendem Applaus.
Millie trat vor Lloyd hin. »Hallo.« Sie blickte Daisy an. »Wer ist denn deine Freundin?«
Lloyd war froh, dass Millie in ihrem raffinierten schwarzen Kleid mit der falschen Perlenkette und dem diskreten Make-up so hübsch aussah. »Miss Peshkov, erlauben Sie mir, Ihnen meine Schwester vorzustellen, Miss Leckwith. Millie, das ist Daisy.«
Sie schüttelten einander die Hand. »Ich freue mich sehr, Lloyds Schwester kennenzulernen«, sagte Daisy.
»Halbschwester eigentlich nur«, erwiderte Millie.
»Mein Vater ist im Großen Krieg gefallen«, erklärte Lloyd. »Ich habe ihn nie gekannt. Mutter hat wieder geheiratet, als ich noch ein Baby war.«
»Viel Spaß noch«, sagte Millie und wandte sich ab; im Gehen raunte sie Lloyd zu: »Jetzt verstehe ich, wieso Ruby Carter keine Chance hat.«
Lloyd ächzte innerlich. Seine Mutter hatte offenbar der ganzen Familie erzählt, dass er in Ruby verknallt sei.
»Wer ist Ruby Carter?«, fragte Daisy.
»Sie ist
Weitere Kostenlose Bücher