Winter der Zärtlichkeit
junge Arzt, nachdem er Tobias sorgfältig untersucht hatte. Er war ein sehr schlanker Mann, fast schmächtig, mit dunklem Haar und Koteletten. Er trug einen teuren Anzug und eine goldene Uhr, auf die er oft schaute. Ein Stadtmensch, dachte Hannah, an feste Terminpläne gewöhnt. „Ich würde Ihnen empfehlen, für ein paar Tage ein Hotelzimmer zu nehmen. Denn der Junge sollte bei diesem Wetter nicht im Freien sein.“
Schon zog Doss seine Brieftasche hervor, als ob es seine Aufgabe wäre, den Arzt zu bezahlen. Doch Hannah trat vor ihn. Sie war Tobias’ Mutter und nach wie vor verantwortlich für solche Rechnungen.
„Das macht einen Dollar.“ Der Arzt blickte von Hannahs Gesicht zu Doss.
Sie drückte ihm das Geld in die Hand.
„Geben Sie dem Jungen einen Whiskey“, fügte der Arzt hinzu, faltete den Dollarschein und steckte ihn in die Tasche seines perfekt geschneiderten Mantels. „Mischen Sie ihn mit Honig und Zitronensaft, falls es das im Hotel gibt.“
Dass Doss ihr keinen triumphierenden Blick zuwarf, weil der Arzt nun offiziell verschrieb, was er schon längst vorgeschlagen hatte, hielt Hannah ihm zugute. Aber sie boxte ihm trotzdem mit dem Ellbogen in die Rippen.
Sie mieteten sich im Arizona Hotel ein, das, wie so vieles in Indian Rock, den McKettricks gehörte. Rafes Schwiegermutter Becky Lewis hatte das Hotel jahrelang mit der Hilfe ihrer Tochter Emmeline geführt. Doch nun gab es einen Hoteldirektor, Mr. Thomas Crenshaw aus Phoenix.
Im Hotel wurde Doss wie ein Potentat auf Durchreise begrüßt. Ein Angestellter brachte den Schlitten und die Pferde in den Stall, während der Hoteldirektor sie zu den besten Zimmern des Hauses führte.
Die Zimmer waren nur durch eine Tür voneinander getrennt. Hannah hätte es vorgezogen, einen Raum auf der anderen Seite des Flurs zu beziehen, schwieg aber. Wenn Mr. Crenshaw auch nicht so weit gegangen war, sie alle in ein und dasselbe Zimmer zu stecken, so ging er ganz offensichtlich davon aus - und der Rest von Indian Rock vermutlich auch -, dass sie und Doss miteinander schliefen. Sie konnte sich seine Gedanken genau vorstellen: Doss und die Witwe seines Bruders teilten sich schließlich ein Haus weit draußen auf dem Land. Der Herr allein wusste, was sie da trieben mit nur einem kleinen Jungen als Zeugen. Ihm mit seinen acht Jahren etwas vorzumachen wäre leicht genug.
Doss legte Tobias auf das nächstbeste Bett.
„Ich gehe nach unten und besorge diese Whiskeymischung“, verkündete er.
Tobias war noch nie in einem Hotel gewesen, und trotz seiner Krankheit begeisterte ihn das Abenteuer. Er schmiegte sich in seine Bärenfelle, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lächelte zur Zimmerdecke hinauf.
„Wie du willst“, entgegnete Hannah, die gerade ihren schweren Mantel und die Haube abnahm.
Er seufzte. „Wenn wir schon mal in der Stadt sind, sollten wir am besten gleich heiraten.“
„Ja“, stimmte Hannah beißend zu. „Und wir sollten auch nicht vergessen, Futtermittel zu bestellen, Lebensmittel einzukaufen, die Stromrechnung zu bezahlen und unser Abonnement für die Zeitung zu verlängern.“
Lachend schüttelte er den Kopf. „Schätze, ich sollte dir auch eine Dosis Whiskey verpassen. Vielleicht fällt es dir dann leichter, die Flitterwochen durchzustehen.“
Gerade als sie aufbrausen wollte, hatte er die Tür schon hinter sich geschlossen.
„Mir gefällt es hier“, strahlte Tobias.
„Gut.“ Verärgert streifte Hannah ihre Handschuhe ab.
„Was sind Flitterwochen?“, wollte ihr Sohn wissen. „Und warum brauchst du Whiskey, um sie durchzustehen?“
Hannah gab vor, die Frage nicht gehört zu haben. Sie hatte nur hastig ein paar Sachen für sich und Tobias zusammengepackt, jedoch nichts Passendes für eine Hochzeit und ganz sicher nicht für eine Hochzeits nacht. Sobald die Reisetaschen nach oben gebracht worden waren, hätte sie endlich etwas zu tun, Kleider ausschütteln und in die Schränke hängen. Doch im Moment konnte sie entweder nur auf und ab gehen oder einen Wirbel um Tobias machen.
Weil Tobias jetzt keinen Wirbel brauchen konnte, lief sie auf und ab. Doss kam mit ihren Taschen zurück, gefolgt von einer Bediensteten, die auf einem Tablett zwei dampfende Becher hereinbrachte. Sie stellte das Tablett auf den Tisch, nahm das Trinkgeld von Doss entgegen, warf Hannah einen neugierigen Blick zu und eilte wieder hinaus.
„Trinkt“, rief Doss fröhlich, reichte Hannah den einen Becher und brachte den anderen Tobias ans
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