Winter der Zärtlichkeit
geriet mit einem Mal alles aus dem Gleichgewicht, er befürchtete, bereits jetzt in großen Schwierigkeiten zu stecken.
1919
Die Luft war so kalt, dass sie durch die Bärenfelle und die vielen Lagen von Hannahs Kleidung schnitt. Sie sah, wie ihr Atem weißblaue Wolken bildete, genau wie der von Doss. Und der von Tobias.
Ihr Junge wirkte fiebrig fröhlich, wie er so zwischen sie und Doss geschmiegt lag, während die beiden großen Zugpferde Kain und Abel den Schlitten über den vereisten Boden zogen. Normalerweise standen die Tiere den ganzen Winter über im Stall, um dann im Frühjahr die Pflüge über die Wiesen zu ziehen und im Herbst Erntewagen. Im Sommer grasten sie. Hannah erschienen sie lebhaft und kräftig, als ob sie sich über die Bewegung freuten.
Wo die anderen Pferde oder Maultiere in dem tiefen, harschen Schnee gestrauchelt wären, stolzierten die Söhne Abrahams, wie Gabe sie gern genannt hatte, so leichtfüßig wie auf trockenem Grund.
Doss hielt die Zügel in den Händen, den Kopf in den Kragen seines mit Schafspelz gesäumten Mantels geduckt. Seine Ohrläppchen, die unter dem Hut hervorlugten, waren rot. Hin und wieder sah er in Hannahs Richtung, doch meistens blickte er nur vom Weg auf, um Tobias zu betrachten.
„Ist dir warm genug?“, fragte er dann.
Und jedes Mal nickte Tobias. Selbst wenn ihm das Blut in den Adern gefroren wäre, hätte er genickt, das wusste Hannah. Er betete seinen Onkel an, das war schon immer so gewesen.
Würde er Gabe vollkommen vergessen, wenn sie und Doss verheiratet waren?
Alles in Hannah sträubte sich gegen diese Vorstellung.
Warum war sie nicht nach Montana zurückgekehrt, als sie noch konnte?
Jetzt würde sie sich für immer binden, an einen Mann, den sie zwar begehrte, aber niemals lieben würde.
Natürlich konnte sie noch immer nach Hause zu ihrer Familie gehen - sie wusste, dass sie und Tobias immer willkommen waren -, aber nur mal angenommen, sie trug wirklich Doss’ Kind unter dem Herzen? Sobald ihre Schwangerschaft sichtbar würde, wüssten alle, welche Schuld sie auf sich geladen hatte. Die ganze Welt würde es wissen.
Wie sollte sie das ertragen?
Nein. Sie würde Doss heiraten, mit ihm das Bett zu teilen, würde ihr Trost sein. Alles andere musste sie irgendwie aus- halten - dass er immerzu versuchte, ihr Befehle zu geben beispielsweise oder dass er sich irgendwann nach anderen Frauen verzehren würde, weil er sie nur aus Ehrgefühl und nicht freiwillig geheiratet hatte.
Sie war das Kreuz, das er zu tragen hatte, und umgekehrt.
In allem lag eine verdrehte Art von Gerechtigkeit.
Am späten Nachmittag, als die Sonne gerade unterging, erreichten sie den Stadtrand von Indian Rock. Doss fuhr direkt zu Mr. Willabys großem Haus auf der Third Street, band die Pferde an und hob Tobias aus dem Schlitten, noch bevor Han- nah sich von den ganzen Decken befreit hatte und selbst aussteigen konnte.
Doc Willabys Tochter Constance öffnete ihnen die Tür. Sie war eine hübsche, junge Frau, die Gabe bis zu dem Tag, an dem er Hannah den goldenen Ring ansteckte, schöne Augen gemacht hatte. Und so wie sie Doss nun ansah, schien sie mehr als bereit, sich mit Gabes jüngerem Bruder einzulassen.
Der Gedanke machte Hannah wütend - obwohl sie sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als das zuzugeben.
„Wir brauchen einen Arzt“, sagte Doss, der Tobias auf den Armen trug.
„Kommen Sie herein.“ Sie hatte glänzendes goldbraunes Haar, sehr grüne Augen und eine schlanke, aber sinnliche Figur. Was dachte Doss wohl, wenn er sie ansah? „Papa ist krank“, informierte Constance sie, „aber mein Cousin ist hier. Er kann sich den Jungen ansehen.“
Hannah schob all ihre Gedanken beiseite und blickte Constance dankbar an. Ein richtiger Arzt würde sich Tobias ansehen. Jetzt würde alles gut werden, und nichts anderes zählte.
Sie würde bis ans Ende ihres Lebens Doss’ Socken stopfen, sein Essen kochen, sein Haar schneiden und ihm den Rücken schrubben. Im Sommer, wenn er das Vieh trieb oder auf den Feldern arbeitete, würde sie ihm Wasser und Sandwiches bringen. Sie würde sich auf die Zunge beißen, wenn sie sich über ihn ärgerte - was sicher oft der Fall wäre - und ihn an den Winterabenden beim Kartenspiel gewinnen lassen.
Sie würde ihn niemals lieben - ihr Herz würde immer Gabe gehören doch niemand auf der Welt, von ihnen beiden abgesehen, würde die traurige Wahrheit jemals erfahren.
„Es ist eine schreckliche Kälte“, sagte der
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