Winter der Zärtlichkeit
versuchte, nicht zu hyperventilieren. „Ich habe kein Handy.“
„Da drüben.“ Die Angestellte zeigte auf eine freundlich aussehende Ecke, über der in Messingbuchstaben Kundenservicebereich stand.
Auf dem Weg zum Telefon durchwühlte Sierra ihre Tasche nach Eves Handynummer und wählte. Eine Stimme meldete sich, um zu verkünden, dass es sich um ein Long-Distance-Ge- spräch handelte und somit Extragebühren fällig würden. „Machen Sie ein R-Gespräch daraus“, fauchte Sierra.
Es klingelte ein Mal. Zwei Mal. Vermutlich saß Eve noch im Flugzeug. Sierra wollte gerade auflegen, als ihre Mutter nach dem dritten Klingeln abnahm: „Eve McKettrick?“
„Ich besitze ein Bankkonto mit zwei Millionen Dollar Guthaben!“, wisperte Sierra in den Hörer.
„Ja, Liebes“, entgegnete Eve freundlich. „Ich weiß.“
„Ich kann das nicht annehmen ..."
„Was? Deinen Treuhänderfonds?“
Ihr blieb die Luft weg. „Meinen Treuhänderfonds ?“
„Ja. Natürlich gehören dir auch Anteile an McKettrickCo.“ „Ich werde deine Almosen nicht annehmen.“
„Erzähl das deinem Großvater“, entgegnete Eve unbeeindruckt. „Dazu bräuchtest du natürlich die Hilfe eines Hellsehers oder so, denn er ist seit fünfzehn Jahren tot.“
„Mein Großvater hat mir zwei Millionen Dollar hinterlassen?
„Ja“, antwortete Eve. „Wir hatten es sicher in der Schweiz angelegt, damit dein Vater es nicht in die Finger bekam.“
Sierra schloss die Augen.
„Liebling?“, fragte ihre Mutter besorgt. „Bist du noch dran?“
„Ja“, seufzte Sierra. Sie könnte dieses ganze Geld ablehnen. Das würde sie auch tun - wenn da nicht Liam wäre. „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Weil ich wusste, dass du noch nicht bereit bist, und ich wollte keine wertvolle Zeit damit verschwenden, darüber zu diskutieren.“
„Warum kannst du überhaupt in einem Flugzeug mit dem Handy telefonieren?“
Eve lachte. „Weil ich die Nummer zum Bordtelefon weitergeleitet habe. Ich bin technisch gesehen ein ziemliches Ass. Noch Fragen?“
„Ja. Was soll ich mit zwei Millionen Dollar anfangen?“
12. KAPITEL
1919
A ls Hannah nach unten kam, hatte Doss bereits Feuer gemacht, Kaffee gekocht und war in den C/ Stall gegangen, so wie jeden Morgen. Sie zog Gabes alten Mantel über - inzwischen war sein Geruch verflogen -, machte einen Abstecher zur Außentoilette und dann zum Hühnerhaus. Gerade wusch sie sich die Hände in einer Schüssel mit heißem Wasser, da kam Doss herein.
„Ich glaube, ich fahr noch mal mit dem Pferdeschlitten los, um nach der Witwe Jessup zu sehen. Ihr Feuerholzvorrat wird für diesen Kälteeinbruch wohl nicht reichen.“
„Aber zuerst wirst du ein gutes, heißes Frühstück zu dir nehmen. Während ich es mache, könntest du ein paar Konserven aus der Speisekammer auf den Schlitten laden. Mrs. Jessup mag vor allem die Zimterbsen und die Holzäpfel, die ich für Weihnachten eingekocht habe.“
Doss nickte, ein Lächeln, das Hannah nervös machte, umspielte seine Mundwinkel. „Wie geht es Tobias heute?“
„Er schläft noch.“ Sie schlug Eier an einer Schüssel auf. „Du brauchst dir nicht eine Sekunde lang einzubilden, dass du ihn mitnehmen kannst. Es ist viel zu kalt, und er ist von gestern noch ganz erschlagen.“
Hannah hatte geglaubt, dass Doss in der Speisekammer wäre, doch auf einmal legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Bei dieser Berührung erschrak sie so, dass sie ganz steif wurde.
Als er sie zu sich drehte und ihr tief in die Augen sah, schlug ihr Herz ein wenig schneller.
Wollte er sie küssen?
Etwas Wichtiges sagen?
Weil sie es sich wünschte und zugleich nicht wünschte, hielt sie den Atem an.
„Bevor er zurück nach Phoenix gefahren ist, sagte Onkel Jeb, dass wir uns einige Schinken aus dem Räucherhaus unten bei Rafe und Emmeline holen sollen“, erklärte er. „Und ein Stück Speck. Das bedeutet, dass ich etwas länger als sonst weg sein werde.“
Hannah nickte nur.
Lange standen sie einfach nur so da.
Dann ließ Doss ihre Schulter los, und sie drehte sich wieder weg, um die Eier zu schlagen und Brot zum Rösten zu schneiden. Währenddessen füllte Doss eine Kiste mit Proviant für die Witwe Jessup.
Nachdem er gegangen war, trug Hannah einen Teller hinauf zu Tobias, der ganz zufrieden schien bei der Aussicht, mit einem seiner vielen Bilderbücher im Bett bleiben zu dürfen.
„Ich mache mir langsam Sorgen um den Jungen“, gestand er seiner Mutter ernst.
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