Winter der Zärtlichkeit
„Er müsste inzwischen zurück sein.“
„Ich bin sicher, dass du ihn bald wiedersiehst. Und vergiss nicht, mir gleich zu sagen, wenn er da ist.“
Nach einem Kuss auf seine Stirn verließ Hannah das Zimmer. Sie ließ die Tür so weit offen stehen, dass sie ihn hören konnte, wenn er sie rief. Was er jetzt am meisten brauchte war Ruhe und gutes Essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Wenn Doss den Schinken und Speck brachte, würde sie ihm ein ganz besonderes Mahl zubereiten.
Hannah räumte die Küche auf, wusch das Geschirr, trocknete es ab und stellte es weg. Danach entzündete sie ein Feuer und ging zum Geschirrschrank, um die oberste Schublade aufzuziehen. Das Album lag, wo es hingehörte. Trotzdem lief ihr ein kleiner Schauer über den Rücken, als sie es sah.
Daneben lag ein kleines ledergebundenes Erinnerungsbuch, das Lorelei und Holt ihr zu Weihnachten geschickt hatten. Der Umschlag war dunkelblau, die Seiten hatten einen Goldrand.
Bisher hatte sie noch kein Wort hineingeschrieben, es nicht einmal aufgeschlagen. Sie hatte ihre Trauer nicht festhalten wollen, sie nicht durch geschriebene Worte noch realer werden lassen wollen.
Jetzt aber hatte sie etwas anderes im Sinn. Sie trug das Erinnerungsbuch zum Tisch und ging ins Herrenzimmer, um Tinte und Füllfederhalter zu holen. Diesen Raum betrat sie nur selten, weil er sie daran erinnerte, wie Gabe am Schreibtisch gesessen und über dem Kassenbuch gebrütet hatte.
Heute wirkte das Zimmer besonders leer, obwohl sie merkwürdigerweise Doss’ Anwesenheit vermisste und nicht die von Gabe. Hannah suchte zusammen, was sie brauchte, und eilte wieder hinaus.
Zurück in der Küche nahm sie einen kleinen Lappen, um den Federhalter abzuwischen. Dann öffnete sie das Tintenfass und klappte das Buch auf.
Auf der Unterlippe kauend tauchte sie den Federhalter in die Tinte, nahm all ihren Mut zusammen und begann zu schreiben.
Mein Name ist Hannah McKettrick. Heute ist der 19.Januar 1919...
Heute
Das Erste, was Sierra auffiel, als sie nach Hause kam, war, dass Travis nicht da war. Dann bemerkte sie, dass das Album, das Eve ihr gezeigt hatte, verschwunden war.
Vorhin hatte sie es auf dem Küchentisch liegen lassen, und nun war es weg.
Sie hielt die Luft an. Lauschte. War da noch jemand im Haus?
Nein, sie brauchte nicht erst die Räume zu durchsuchen, Schranktüren zu öffnen und unter Betten zu spähen, um zu wissen, dass es leer war.
Ihre praktische Ader schlug durch, also brachte sie den Rest der Supermarkttüten ins Haus und räumte alles weg. Stellte eine Kanne Kaffee auf. Machte sich ein Thunfisch-Sandwich und aß es auf.
Erst nachdem sie den Teller in die Spülmaschine gestellt hatte, ging sie hinüber zum Geschirrschrank und öffnete die oberste Schublade, so wie Eve es heute Morgen getan hatte.
Das Album lag wieder an seinem Platz.
Sierra runzelte die Stirn und schloss die Schublade wieder.
Die Fotos wollte sie später ansehen, zusammen mit denen auf dem Dachboden.
Jetzt kam erst einmal der Tannenbaum an die Reihe. Sie holte die großen Schachteln aus dem Keller, trug sie ins Wohnzimmer, nahm vorsichtig den Weihnachtsschmuck ab und wickelte jedes einzelne Stück in Papier ein. Einige Anhänger waren ganz offensichtlich teuer, andere von Generationen von Kindern selbst gemacht.
Als sie den Seidenweihnachtsbaum von sämtlichem Schmuck befreit hatte, war es auch schon Zeit, in die Stadt zu fahren, um Liam abzuholen. Rückwärts fuhr sie mit dem Blazer aus der Garage und hätte beinahe Travis überfahren, der sich gerade über den Kühler ihres Kombis beugte.
Grinsend sprang er aus dem Weg.
Sierra trat heftig auf die Bremse und ließ dann das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. „Sie haben mich erschreckt“, rief sie.
„Ich habe Sie erschreckt?“, erwiderte er lachend.
„Ich habe nicht erwartet, dass Sie dort stehen würden.“
„Und ich habe nicht erwartet, dass Sie mit fünfundsechzig Meilen die Stunde aus der Garage jagen.“
„Diskutieren Sie eigentlich immer über alles?“
„Klar.“ Er zuckte mit den beeindruckenden Schultern. „Ich muss scharfsinnig bleiben, für den Fall, dass ich wieder als Anwalt arbeiten will. Wo wollen Sie überhaupt so eilig hin?“ „Liam vom ersten Schultag abholen.“
„Richtig.“ Travis trat einen Schritt zurück.
„Wollen Sie mitkommen?“
Wie war sie nur auf die Idee gekommen? Zwar mochte sie Travis Reid wirklich gern und war ihm auch dankbar für seine Hilfe, doch
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