Winter der Zärtlichkeit
gleichzeitig fühlte sie sich in seiner Nähe immer etwas unbehaglich.
Offenbar bemerkte er ihre Zweifel, denn er sagte: „Vielleicht ein andermal. Eve hat mir erzählt, dass Sie den Weihnachtsbaum abbauen wollen. Das ist ein Riesending, ich kann ihn zurück in den Keller schaffen, wenn Sie wollen.“
„Das wäre toll. Frischer Kaffee steht auf dem Herd - bitte bedienen Sie sich.“
Als Sierra davonbrauste, dachte sie nicht länger an die zwei Millionen, die verschwindende Teekanne, das Klavier, das von allein spielte, das teleportierte Fotoalbum oder an Liam.
Sie dachte an Travis, diesen angeheuerten Hilfsarbeiter.
Liam, der gerade durch sein neues Teleskop in den Himmel sah, spürte das vertraute Zittern in der Luft. Schon bevor er sich umdrehte, wusste er, dass der Junge wieder da sein würde. Und tatsächlich. Im Bett liegend starrte er Liam an.
„Wie heißt du?“, fragte der Junge.
Einen Moment glaubte Liam seinen Ohren nicht zu trauen. Obwohl er keine Angst hatte, schnürte sein Hals sich zusammen. Er hatte geplant, dem Jungen von seinem ersten Schultag und alles Mögliche mehr zu erzählen, wenn er wieder auftauchte. Doch jetzt steckten die Worte in seinem Hals fest. „Ich heiße Tobias.“
„Ich bin Liam.“
„Das ist ein komischer Name.“
Selbstbewusst drückte Liam den Rücken durch. „Tobias ist auch ziemlich komisch.“
Tobias warf die Bettdecke zurück und sprang aus dem Bett. Er trug ein lustiges Flanellnachthemd, das besser zu einem Mädchen als zu einem Jungen gepasst hätte. Es reichte ihm bis über die Knie. „Was ist das?“ Er deutete auf Liams Teleskop.
Nachdem Liam ihm alles erklärt hatte, fragte er: „Willst du mal? Du kannst mit diesem Ding bis zum Saturn sehen.“
Tobias spähte durch den Sucher. „Der hüpft herum. Und er ist blau ! “
„Stimmt. Wieso trägst du ein Kleid?“
In Tobias’ Augen blitzte es, seine Wangen färbten sich rot. „Das ist ein Nachthemd.“
„Was auch immer“, sagte Liam.
„Das ist auch ein ziemlich seltsames Gewand“, erwiderte Tobias nach einer gründlichen Musterung von Liams Kleidung.
„Besten Dank“, sagte Liam, aber er war nicht sauer. Er vermutete, dass „Gewand“ Klamotten bedeuten sollte. „Bist du ein Geist?“
„Nein“, antwortete Tobias. „Ich bin ein Junge. Was bist du?“
„Auch ein Junge.“
„Was machst du in meinem Zimmer?“
„Das ist mein Zimmer. Was machst du hier?“
Da stieß Tobias grinsend einen Finger in Liams Brust, als wollte er herausfinden, ob er einfach hindurchginge. „Meine Ma will, dass ich ihr sofort sage, wenn ich dich wiedersehe.“ Auch Liam streckt seine Finger aus, nur um festzustellen, dass Tobias genauso körperlich war wie er.
„Und, wirst du?“, fragte er.
„Ich weiß nicht.“ Tobias drückte sein Auge wieder an das Teleskop. „Ist das wirklich der Saturn, oder ist das so ein neumodischer Apparat mit bewegten Bildern?“
1919
Hannah pustete auf die Tinte, bis sie trocken war, dann wischte sie den Federhalter sauber, verschloss das Tintenfass und klappte das Erinnerungsbuch zu.
Nun, nachdem sie etwas hineingeschrieben hatte, kam sie sich ein wenig töricht vor. Aber jetzt war es sowieso zu spät.
Sie verstaute das Buch sorgfältig unter dem Deckel des Familienalbums.
Als sie die Treppe hinauflief, um nach Tobias zu sehen, hörte sie, wie er sich mit jemandem unterhielt. Zwar konnte sie nichts verstehen, aber er sprach mit einem Eifer, den sie schon lange nicht mehr in seiner Stimme gehört hatte.
Einen Moment blieb sie reglos stehen und reckte sich vor, um zu lauschen.
„Ma!“, brüllte er plötzlich.
Sofort stürzte sie über den Flur in sein Zimmer.
Er lag gemütlich im Bett, hellwach, in seinen Augen glänzte eine fast fieberhafte Begeisterung. „Ich habe den Jungen gesehen“, rief er. „Sein Name ist Liam, und er hat mir den Saturn gezeigt.“
„Liam“, wiederholte Hannah, weil ihr nichts anderes einfiel.
„Ich habe ihm gesagt, dass das ein komischer Name ist - Liam, meine ich, und er sa gte, Tobias wäre auch komisch.“
Hannah öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Nervös nestelte sie mit beiden Händen am Saum ihrer Schürze. Ihre Knie j waren ganz weich geworden. Und obwohl sie Tobias gebeten hatte, ihr Bescheid zu sagen, wenn er den Jungen wiedersah, musste sie nun feststellen, dass sie nicht darauf vorbereitet war.
Sie wünschte sich Doss herbei, auch wenn er wahrscheinlich keine Hilfe wäre.
„Ma?“ Tobias klang
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