Winter der Zärtlichkeit
mehr, aber Sierra war so entsetzt, dass sie die weiteren Worte einen Moment nicht entziffern konnte.
Richtete sich diese Frau, die vermutlich schon lange tot war, tatsächlich aus einem anderen Jahrhundert an sie? Unmöglich.
Andererseits war es auch unmöglich, dass Teekannen und Fotoalben sich selbst fortbewegten. Es war unmöglich, dass ein Klavier Musik spielte, ohne dass jemand die Tasten berührte.
Es war unmöglich, dass Liam einen Jungen in seinem Zimmer sah.
Sierra senkte den Blick wieder auf das Büchlein. Die Worte waren vor so langer Zeit geschrieben worden und wirkten doch so unmittelbar wie eine E-Mail.
Wie konnte das nur sein?
Sie holte noch einmal tief Luft und las weiter.
Wahrscheinlich habe ich den Verstand verloren. Doss behauptet, es wäre die Trauer über Gabes Tod. Ich weiß nicht einmal, warum ich das hier schreibe, außer vielleicht in der Hoffnung, dass du etwas antworten wirst. Das ist der einzig vorstellbare Weg, mit dir zu sprechen.
Instinktiv sah Sierra auf die Uhr. Es waren nur wenige Minuten vergangen, seit sie sich an den Tisch gesetzt hatte, doch ihr kam es deutlich länger vor.
Sie stand auf. In der Schublade des Geschirrschranks fand sie einen Stift. Das war verrückt. Möglicherweise würde sie ein wichtiges Erinnerungsstück verunstalten. Doch es lag etwas so Flehendes in Hannahs Worten, dass sie es nicht ignorieren konnte.
Mein Name ist Sierra McKettrick, heute ist der 20. Januar 2007.
Ich habe auch einen Sohn, sein Name ist Liam. Er ist sieben und hat Asthma. Er ist der Mittelpunkt meines Lebens.
Du hast von mir nichts zu befürchten. Ich bin kein Geist, nur eine ganz normale Frau aus Fleisch und Blut. Eine Mutter wie du.
Das Klingeln des Telefons riss Sierra aus ihrer Versenkung.
Wegen Liams Krankheit ständig in Erwartung eines Notfalls, eilte sie zum Telefon.
„Die Indian Rock Grundschule“, meldete sich eine Stimme. Der Raum begann zu schwanken.
„Hier spricht Sierra McKettrick“, erwiderte sie. „Geht es meinem Sohn gut?“
Glücklicherweise war die Stimme am anderen Ende ruhig. „Liam ist nur ein bisschen schlecht, das ist alles“, beruhigte sie die Frau. „Die Schulkrankenschwester ist der Ansicht, dass er nach Hause sollte. Morgen geht es ihm wahrscheinlich schon wieder besser.“
„Ich komme sofort.“ Sierra legte auf, ohne sich zu verabschieden.
Liam geht es gut, sagte sie sich immer wieder, spürte aber trotzdem, wie Panik in ihr aufstieg. Sie klappte Hannah McKettricks Erinnerungsbuch zu und legte es zurück ins Album und beide Bücher zusammen wieder in die Schublade.
Danach jagte sie durch die Küche auf der Suche nach dem Autoschlüssel. Erst ein paar Minuten später fiel ihr ein, dass sie ihn im Zündschloss hatte stecken lassen, als sie aus der Stadt zurückgekommen war. Sie war so begierig auf das heimliche Stelldichein mit Travis gewesen ...
Nachdem sie sich ihren Mantel geschnappt hatte, stürmte sie aus dem Haus und sprang in den Wagen.
Die Straßen waren vereist, und als Sierra schließlich in Indian Rock ankam, fielen riesige Schneeflocken aus dem düsteren grauen Himmel. Sie zwang sich abzubremsen, doch als sie endlich den Schulparkplatz erreichte, vergaß sie in der Hektik beinahe, den Motor abzustellen.
Liam lag auf einer Liege im Büro der Krankenschwester. Er war alarmierend blass. Jemand hatte ein Tuch auf seine Stirn gelegt, und er war ganz allein.
Wie konnten diese Leute ihn einfach allein lassen?
„Mom. Mein Bauch tut weh. Ich glaube, ich muss noch mal brechen.“
In Windeseile lief sie zu ihm. Er rollte sich auf die Seite und erbrach sich auf ihre Schuhe.
„Tut mir leid“, weinte er.
„Ist schon gut, Liam. Ist nicht schlimm.“ Beruhigend strich sie über sein schweißnasses Haar.
Er übergab sich erneut. Anschließend nahm Sierra sich eine Handvoll Papierhandtücher aus dem Wandhalter, befeuchtete sie im Waschbecken und wusch sein Gesicht.
„Mein Mantel!“, schluchzte er. „Ich will meinen Cowboy- Mantel nicht hierlassen ...“
„Mach dir keine Sorgen um deinen Mantel.“ Sierra fragte sich fahrig, was sie eigentlich mit der Frau zu tun hatte, die den halben Morgen nackt in Travis Bett verbracht hatte.
Im selben Moment kam die Krankenschwester, eine große blonde Frau mit freundlichen blauen Augen, mit Liams Mantel und Rucksack ins Zimmer und legte die Sachen vorsichtig auf einen Stuhl.
Als Sierra den Mantel holen wollte, schrie Liam: „Nein! Wenn ich nun auf den Mantel brechen
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