Winter der Zärtlichkeit
muss?“
„Liebling, draußen ist es kalt, und wir können den Mantel jederzeit reinigen lassen ...“
Die Krankenschwester fing ihren Blick auf und schüttelte den Kopf. „Wir können Liam doch in ein paar Decken wickeln. Ich helfe Ihnen, ihn zum Wagen zu tragen. Sein Mantel ist ihm wichtig - so wichtig, dass er mich angefleht hat, ihn zu holen, obwohl ihm so schlecht war.“
Sierra biss sich auf die Lippen. Als sie Liam in die Decken eingewickelt hatten, hob sie ihn hoch. Er war schon so groß. Bald würde sie ihn nicht mehr tragen können.
Die Schiebetüren am Haupteingang öffneten sich zischend. „Na toll“, stöhnte Liam. „Alle gucken. Jeder weiß, dass ich gekotzt habe.“
Bis zu seiner Bemerkung hatte Sierra die Kinder, die in den Korridor strömten, gar nicht bemerkt. Offenbar hatte es inzwischen geläutet.
„Ist schon gut, Liam“, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht! Meine Mom trägt mich in Decken gewickelt aus der Schule wie ein Baby! Das werden die nie vergessen!“
Darauf wechselten Sierra und die Krankenschwester einen Blick.
„Wenn du in die Schule zurückkommst“, begann die Krankenschwester, „kommst du gleich in mein Büro. Dann kann ich dir jede Menge Geschichten erzählen, die in dieser Schule passiert sind. Du bist nicht der Erste, der sich hier übergeben hat, Liam McKettrick, und du wirst auch nicht der Letzte sein.“ Ermutigt hob Liam den Kopf. „Echt?“
Die Krankenschwester verdrehte übertrieben die Augen.
„Das kannst du dir gar nicht vorstellen ! “, verkündete sie in verschwörerischem Ton, während sie die Beifahrertür des Blazers öffnete, damit Sierra ihren Sohn absetzen und anschnallen konnte. „Ich werde natürlich keine Namen nennen, aber ich habe Kinder gesehen, die viel Schlimmeres gemacht haben als sich zu übergeben.“
Sierra warf die Tür zu und drehte sich zu der Krankenschwester um. „Danke“, sagte sie aufrichtig. Von drinnen spähte Liam durchs Fenster, im Gesicht ein wenig grün und mit zu sämtlichen Seiten abstehenden Haaren. „Sie haben eine spezielle Art, ein Kind zu trösten, aber sie scheint zu funktionieren.“
Lächelnd reichte die Schwester ihr die Hand. „Mein Name ist Susan Yarnia. Wenn Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie mich an. Entweder hier in der Schule oder zu Hause. Der Name meines Mannes ist Joe. Wir stehen im Telefonbuch.“ „Das ist sehr nett. Meinen Sie, ich sollte ihn ins Krankenhaus bringen?“, fragte Sierra leise.
„Das liegt natürlich ganz an Ihnen. Momentan geht ein Ma- gen-Darm-Virus herum, und ich vermute, dass Liam ihn aufgeschnappt hat. An Ihrer Stelle würde ich ihn einfach nach Hause bringen, ins Bett stecken und ein bisschen verhätscheln. Sorgen Sie dafür, dass er viel Flüssigkeit zu sich nimmt. Wenn es Ihnen gelingt, ihm ein paar Löffel Hühnersuppe einzuflößen, umso besser.“
Nachdem sie sich noch einmal bedankt hatte, setzte Sierra sich hinter das Lenkrad.
„Und wenn ich Tante Megs Auto einsaue?“, fragte Liam. „Dann mache ich es wieder sauber.“
„Das ist alles total peinlich. Das muss ich Tobias erzählen ...“
Tobias.
Wenn Sierra nicht auf eisglatter Straße gefahren wäre, hätte sie vermutlich die Bremse durchgetreten.
Bitte tu meinem Jungen nichts, hatte Hannah McKettrick geschrieben. Sein Name ist Tobias. Er ist acht Jahre alt.
„Wer ist Tobias?“, fragte sie leichthin, aber ihre Handflächen waren so feucht, dass sie befürchtete, das Steuer nicht halten zu können, wenn sie eine plötzliche Lenkbewegung machte.
„Der. Junge. In. Meinem. Zimmer.“ Liam sprach, als ob Englisch nicht einmal Sierras zweite Muttersprache wäre, geschweige denn ihre erste. „Ich habe dir doch von ihm erzählt .“
„Sicher.“ Sierras Magen zog sich so fest zusammen, dass sie schon befürchtete, sie würde sich als Nächste übergeben. „Aber du hast nicht erwähnt, dass ihr euch unterhaltet.“
„Ich dachte, du würdest ausrasten. Oder mich in die Klapse stecken.“
Gerade fuhr sie an der Klinik vorbei, in die sie Liam am Tag seines Asthmaanfalls gebracht hatten. Es kostete sie große Anstrengung, nicht anzuhalten und die Ärzte aufzufordern, sofort lebenserhaltende Maßnahmen einzuleiten oder ihn per Hubschrauber nach Standford zu bringen.
Er hat nur eine Magen-Darm-Grippe, redete sie sich gut zu und fuhr mit zusammengebissenen Zähnen weiter.
„Wann habe ich dir jemals damit gedroht, dich irgendwohin zu stecken, ganz zu schweigen von einer
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