Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
wie er den Angreifer von Lornas Körper wegriss, vermochte sie ihn kaum wiederzuerkennen.
Er machte ihr mindestens ebenso viel Angst wie sein Gegner, diese knochige Gestalt, die in die Luft biss und versuchte, seine Schläge zu parieren.
Kalter Schweiß begann ihren Rücken hinunterzurinnen, und die Erinnerung an den eigenen Überfall explodierte in ihrem Kopf.
Sie sah, wie Gareth sich in das Gewühl stürzte, doch alles schien ihr unwirklich und weit weg, wie in einem Film.
Erst das Wimmern ihrer Freundin holte sie in die Wirklichkeit zurück.
Lorna!,
realisierte sie unvermittelt.
Sie brachte ihren Körper wieder unter Kontrolle und rannte zu ihr. Wenige Schritte von ihr entfernt kämpften Gareth und Cameron Farland gegen einen geschmeidigen und außerordentlich kräftigen Gegner und versuchten verzweifelt, ihn in ihre Gewalt zu bekommen.
Lorna Carter lag zusammengerollt am Boden, umklammerte ihr Bein knapp oberhalb des Knies und weinte vor Schmerzen. Blut klebte an ihren Kleidern.
Winter umfasste sie mit einem Arm.
»Komm, Lorna!«, sagte sie und begann die Freundin wegzuziehen, ins Licht einer Straßenlaterne.
Erst nach einigen Minuten bemerkte sie, dass Cameron den Angreifer mittlerweile bewegungsunfähig gemacht hatte.
Lorna stöhnte immer noch. Ihre Jacke war zerrissen, die Strümpfe in Fetzen und das Blut floss in Strömen aus einer kreisrunden, klaffenden Wunde in der Kniekehle.
Winter hob ungeschickt ihr Bein an.
Sie musste die Blutung stillen. Sie zerrte ihren Baumwollschal vom Hals und betupfte damit Lornas Wunde, während die Rauferei weiterging.
Der Angreifer kämpfte mit beeindruckenden Kräften und Winter erkannte bestürzt, dass es sich um ein knochendünnes Mädchen mit dem Gesichtsausdruck einer Wahnsinnigen handelte.
Das besänftigte Cameron Farland jedoch keineswegs, er hielt sie mit den Knien am Boden fest und starrte sie an, als wollte er sie gleich umbringen.
Winter hörte an ihren Jammerlauten, dass er ihr wehtat.
»Du hast gerade den letzten Fehler deines Lebens begangen, mein Täubchen!«, zischte er mit einem bösartigen Lächeln. »Man lässt die Finger von Dingen, die jemandem gehören, der stärker ist …«
Sie versuchte erneut, sich zu befreien, gab es aber schließlich auf. Am Boden liegend winselte sie vor Schmerzen.
»Es ist die MACHT «, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Hast du sie nicht auch wahrgenommen? Sie hatte den Geruch an sich!«
Arme Irre!
Cameron empfand beinahe Mitleid. Leute wie sie hatten sich nicht unter Kontrolle, und es war nicht mal ihre Schuld, dass sie sich jetzt in dieser Situation befand, bezwungen und röchelnd am Boden. Doch sein Mitleid würde nicht lange anhalten, beschloss Cameron, und in seinen Händen kribbelte es erneut vor Zorn.
Gareth Chiplin hielt ihn gerade noch rechtzeitig zurück. Die Luft war erfüllt von Adrenalin und Gewalt, doch das Martinshorn kündete die Ankunft der Polizei an.
Cameron entspannte jeden Muskel einzeln, versetzte seiner Gegnerin einen letzten Faustschlag und ließ dann von ihr ab. Zumindest für den Moment.
Ioan Evans stieg mit finsterem Gesicht aus dem Dienstwagen.
In diesen Nächten lag eine ungewöhnliche Unruhe in der Luft. Er hatte bereits diverse Meldungen wegen verschwundenem Vieh und Vandalismus erhalten – es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis so etwas geschehen musste.
Der Polizeichef kannte die Anweisungen: keine Panikmache, Zeugenaussagen sammeln, einen Polizeirapport in doppelter Ausführung verfassen und alle Einzelheiten der zuständigen Stelle melden.
Er schaute sich widerwillig um und sah eine verwundete Schülerin in den Armen einer Freundin und etwas weiter weg zwei Jungs, die offenbar eingeschritten waren, um Schlimmeres zu verhindern.
Sieh an, zwei bekannte Gesichter!,
stellte er beim Anblick der beiden Jungen fest. Sie musterten immer noch misstrauisch den bewegungslosen Körper einer jungen Frau.
»Guten Abend, die Herren«, begrüßte er sie betont streng. Gareth Chiplin war ihm sympathisch, der Nox etwas weniger. »Es war ein bewegter Abend, wie ich sehe …«
Farland erwiderte seinen Gruß mit zusammengepressten Zähnen.
»Bringen Sie diesen Abschaum weg!«, knurrte er, und Evans zog die Handschellen aus der Tasche.
Er schloss sie um die Handgelenke der Frau. Sie war knochendünn und atmete kaum, eine Ewigkeit verging zwischen jedem Heben und Senken ihres Brustkorbs.
Nicht weit von dort entfernt war Lornas Blutung inzwischen gestillt worden, doch sie
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