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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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zurückhaltend bei der Beurteilung gewesen.
    Am 19. September wurde ich als »Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Verwaltung der Akten und Dateien des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit« vorgeschlagen. Einen Gegenkandidaten gab es nicht. Die Wahl erfolgte in der letzten Sitzung der Volkskammer am 28. September 1990. Es gab fraktionsübergreifende Zustimmung und nur einige wenige Gegenstimmen. Ich bedankte mich mit dem Hinweis auf die Menschen, die den revolutionären Umbruch geschafft und mit diesem Parlament diese Form der Aufarbeitung ermöglicht hatten.
    Zu Hause in Rostock hatten meine Frau und Katharina bang die Nachrichten verfolgt. Bis zuletzt hatten sie gehofft, ich würde das Amt nicht annehmen. Es erschien meiner Frau zu exponiert; sie fürchtete sogar, dass wütende MfS-Kader mich umbringen könnten. In ihr lebten alte DDR-Ängste weiter wie in so vielen gebrannten Kindern des Regimes. Zur Feier der Einheit aber kam sie dann doch nach Berlin und wurde Zeugin, wie beim Festakt im Berliner Schauspielhaus plötzlich ein Beamter des Innenministeriums auf mich zueilte und mir unbedingt etwas in die Hand drücken wollte. Das passte mir nicht. Ich wollte keine Mappe mit mir herumschleppen, wenn Kurt Masur die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven spielte. Aber der Mann ließ nicht locker. Im Unterschied zu mir wusste er, dass ich die Urkunde noch vor Mitternacht in der Hand haben musste. Dieser Rechtsakt war wichtig, sonst wären die Stasi-Akten im ganzen Land herrenlos geworden. So nahm ich ein wenig irritiert am späten 2. Oktober auf dem Flur des Schauspielhauses in der Mitte Berlins eine Urkunde entgegen, die vom Bundespräsidenten und darüber
hinaus - was ganz und gar ungewöhnlich war - vom Bundeskanzler und vom Innenminister unterschrieben war, eben eine Sonderurkunde für einen Sonderbeauftragten.

    In der Nacht zum 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag in Berlin. Die neue Einheit der Deutschen beginnt in diesen Minuten - Schlusspunkt und Neubeginn. Ganz und gar überraschend für die meisten hatten Ost und West das Bewusstsein bewahrt, zu einer Nation zu gehören: »Wir sind ein Volk!«
    Um Mitternacht, als das neue Deutschland geboren wurde, begann meine Tätigkeit als Leiter einer Behörde, die zunächst nur auf dem Papier existierte. Wir standen auf den Stufen des Reichstags, meine Frau und ich, nur wenige Schritte hinter Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker, hier, wo so lange verbotene Zone für uns gewesen war. Wir fassten uns an den Händen; jeder hatte auf seine Art vierzig Jahre DDR hinter sich gebracht, nah beieinander hatten wir 1989 das Glück der Befreiung erlebt. Nun erlebten wir noch einmal einen der inzwischen selten gewordenen Momente von Nähe, vor uns die riesige Menge glücklicher Menschen, über allen die große, heitere, freundliche Stimmung dieser
Vereinigungsnacht. Zum Geläut der Freiheitsglocke wurde die große Deutschlandfahne am Mast vor dem Reichstag hochgezogen: schwarzrotgold. »Deutschland, einig Vaterland« sang »Einigkeit und Recht und Freiheit«.
    Ich würde bald kein Parlamentarier mehr sein. Obwohl ich zu den 144 Abgeordneten gehörte, die von der Volkskammer bis zur Neuwahl in den Bundestag delegiert worden waren, hatte ich mich entschieden, den Sitz aufzugeben. Ich war nun ein Beauftragter der Regierung und konnte, so verstand ich die Gewaltenteilung jedenfalls, kein Abgeordneter mehr sein.
    Ich dürfte der Parlamentarier mit der kürzesten Amtszeit im Deutschen Bundestag gewesen sein, denn ich suchte gleich am nächsten Tag die Präsidentin des Deutschen Bundestages auf und legte mein Mandat nieder. Aber dieser eine Tag als Abgeordneter des Deutschen Bundestages war mir wichtig.

Aufbau ohne Bauplan
    D er Feiertag war vorüber, und plötzlich war ich im alten DDR-Jargon »Staatlicher Leiter«, schickte mich an, die Aufgaben eines Präsidenten einer oberen Bundesbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern (BMI) zu erlernen. Es war klar, dass jetzt Berlin mein Lebensmittelpunkt sein würde. Ich bewegte mich in einer Welt voller Aufbruchstimmung und arbeitete mit Menschen voller Optimismus zusammen. Innerlich hatte ich mich aber nicht endgültig von meinem Pastorenberuf verabschiedet und glaubte noch, nach einigen Jahren zurückzukehren.Vorerst beflügelte mich die Vorstellung, in einer anderen Welt wichtig zu sein und etwas Neues beginnen und gestalten zu können. Es war der wohl tiefste Einschnitt in meinem Leben.
    Ich war

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