Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
vorstellte. So kam ich zu einem parteilosen, auf verschiedenen Rechtsgebieten versierten Fachmann, der sich mit unglaublicher Energie der Mehrfachbelastung stellte und sich unverzüglich an die Arbeit machte.
HANSJÖRG GEIGER ERZÄHLT
Der Name Joachim Gauck sagte mir im September 1990 so gut wie nichts. Auch vom MfS hatte ich keine Ahnung, das war ein closed shop, ein schwarz verhangener Kasten. Da ich jedoch seit Jahren schon etwas Neues machen wollte und es meinem staatsbürgerlichen Grundverständnis entsprach, für die Wiedervereinigung etwas zu leisten, sagte ich ja, grundsätzlich sei ich interessiert. Ich war einfach neugierig und wollte ohne jeden Druck prüfen, ob ich Lust hätte, mich darauf einzulassen.
Dann ging alles sehr schnell. Am Sonntag, dem 7. Oktober 1990, kehrte ich von Paris nach München zurück, schon am Dienstag flog ich nach Berlin, um Herrn Gauck kennen zu lernen. Wir verabredeten uns für 10 Uhr im alten ZK des SED, dem jetzigen Außenministerium, das bis Kriegsende Sitz der Reichsbank gewesen war. Um das entlegene Büro des Sonderbeauftragten zu finden, musste ich geführt werden: In das oberste Stockwerk über einen langen Gang bis zu einer Tür, die aussah wie jede andere, hinter der jedoch ein weiterer Gang lag, der über einige Stufen in eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung führte, die dem Präsidenten der Reichsbank einst als Rückzugsmöglichkeit gedient haben soll und nun zum Büro des Sonderbeauftragten umfunktioniert worden war.
Etwa zehn Leute saßen in den beiden Räumen herum und diskutierten. Es war nicht erkennbar, ob es sich um Mitarbeiter handelte oder um Journalisten oder - das stellte sich später heraus - um Familienangehörige. Ein munterer Kreis. Eines Tages sollte mir die Freundin von David Gill barfuß und mit nassen Haaren entgegenkommen - sie hatte unser Bad benutzt, weil es in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg keines gab.
Dann kam Herr Gauck, wir setzten uns auf eine Couch, die erst leer geräumt werden musste von den vielen Briefen der Bürger, die sich dort bereits stapelten. Die übrigen Anwesenden wurden aus dem Raum hinauskomplimentiert. Wir unterhielten uns etwa vier Stunden. Ich verstand sehr schnell, dass es darum ging, die Arbeitsweise des MfS aufzudecken und den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich das Wissen anzueignen, das dieser Repressionsapparat über sie gesammelt hatte.
Eine Akte des MfS hatte ich natürlich noch nicht gesehen, und vom wahren Ausmaß der Repression hatte ich nach wie vor keine Ahnung. Aber ich gewann den Eindruck, dass die Aufgabe herausfordernd sein könnte. Außerdem spürte ich, dass Herr Gauck und ich vieles auf ähnliche Weise sahen und in unseren Bewertungen auf einer Wellenlänge lagen. Wie intensiv mich das Gespräch gepackt hatte, zeigte sich, als ich am Ende zustimmte: »Ja, ich komme Donnerstag wieder.« Herr Gauck hatte mich nämlich gebeten, an einer Sitzung mit dem Aufbaustab vom BMI teilzunehmen, der erste Pläne für die künftige Behördenstruktur vorlegen wollte.
Selbst in Bayern war die Ausnahmesituation nach der Wiedervereinigung zu spüren. Niemand protestierte, niemand runzelte die Stirn, als ich nach zwei Tagen wiederum eine Dienstreise nach Berlin antrat - zu einer Dienststelle, die mich womöglich abwerben würde. Als wir mit dem Leiter des Aufbaustabs, Herrn Dr. Frank, und ein, zwei seiner Mitarbeiter zusammentrafen, hatte ich mir bereits ein paar Gedanken zur möglichen Organisation der neuen Behörde gemacht. Es war
offenkundig, dass das BMI - in bester Absicht - das Ganze in die Hand nehmen wollte. Herr Gauck hätte dann zusehen können, wie westdeutsche Beamte die Aufgabe entsprechend ihren Kriterien erledigten. Doch Gaucks Herangehen war mit dem der Bonner überhaupt nicht in Übereinstimmung zu bringen. Diese wollten eine stringente Organisation aufbauen, Herr Gauck wollte Aufklärung betreiben. Aufgrund meiner organisatorischen Erfahrungen konnten wir erste eigene Vorstellungen einbringen, wir ergänzten uns wunderbar.
Am Donnerstagabend, dem zweiten Tag, an dem ich überhaupt wusste, was Stasi bedeutete, nahm ich zusammen mit Herrn Gauck bereits an einer live ausgestrahlten Rundfunksendung teil. Eine Stunde lang standen wir im ehemaligen Presseund Informationsamt der DDR am Gendarmenmarkt Rede und Antwort. Ein bisschen frech war das schon, aber auch Ausdruck dessen, dass Herr Gauck mich mit seiner Botschaft überzeugt hatte, so dass ich sie in mein Juristenvokabular umsetzen konnte. Ich
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