Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Bundeskanzler Kohl gegangen, wären die Stasi-Materialien einfach in einem großen
Loch verschwunden. Und das Bonner Innenministerium war der Ansicht, dass der Westen besser mit der Altlast umgehen könne als der Osten. Also schickte Eckart Werthebach, ein karrierebewusster Ministerialrat, der vom damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble zum Berater des Innenministers in Ost-Berlin ernannt worden war, ein Fax an den Leiter der Abteilung Recht im DDR-Innenministerium. Eine »differenzierte Vernichtungsregelung«, hieß es darin, werde »unbedingt als erforderlich angesehen«. In Sorge um die Sicherheit des Staates (oder auch um die bürgerliche Reputation einiger Politiker und sonstiger Führungskräfte) hatten die Innenminister der Länder und des Bundes beschlossen, Stasi-Unterlagen, die im Westen vermutlich von ehemaligen MfS-Mitarbeitern angeboten wurden, zu vernichten. Bonn drängte zudem darauf, die Stasi-Unterlagen dem Bundesarchiv Koblenz zu überstellen. Der Präsident des Bundesarchivs wäre dann auch Sonderbeauftragter für die Nutzung der Stasi-Akten geworden. So sah es auch der Einigungsvertrag vor, mit dem im Oktober 1990 der Beitritt der DDR zum Bundesgebiet besiegelt werden sollte. Der Osten empörte sich: Gerade hatten wir ein Gesetz verabschiedet, das Politik-, vielleicht auch Rechtsgeschichte geschrieben hatte, und jetzt sollte der von allen Volkskammerabgeordneten bekundete Volkeswille derart missachtet werden?
Am 30. August habe ich eine Entschließung des Parlaments herbeigeführt, dass wir auf unserem Gesetz bestehen und es als fortwirkendes Recht im wiedervereinigten Deutschland übernommen sehen wollen. Den Verhandlungsführer der DDR, Staatssekretär Günther Krause, wies ich ausdrücklich darauf hin, dass auch seine Fraktion in der Volkskammer, die CDU, die Bonner Linie nicht unterstütze. Der Einigungsvertrag war bereits weitgehend ausgehandelt, es war sogar eine Formel gefunden, die den Streit in der Eigentumsfrage beendete. Unser stures Beharren löste Befürchtungen aus, die Einigung könnte scheitern, und so kam es, dass ich am 18. September in die Regierungsmaschine der DDR gesetzt wurde und mit einer Verhandlungsdelegation nach Bonn flog.
Wir einigten uns auf einen Kompromiss: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz der Volkskammer sollte nicht als fortwirkendes Recht übernommen, der Einigungsvertrag aber um eine Zusatzklausel ergänzt werden. Unser Volkskammer-Gesetz würde mit der Auflösung der DDR unwirksam werden, der Deutsche Bundestag aber verpflichtet sein, unmittelbar nach der Vereinigung ein neues Gesetz auf der Grundlage des alten zu verabschieden. Schöner wäre es gewesen, wir hätten uns ganz durchgesetzt, aber immerhin blieben die Kernpunkte unseres Gesetzes erhalten: Die Akten sollten geöffnet werden für die politische, historische und juristische Aufarbeitung, ferner sollten sie auf dem Gebiet der DDR dezentral gelagert, aber zentral unter Bundeshoheit verwaltet werden. Ein ehemaliger DDR-Bürger sollte von der Volkskammer zum unabhängigen Sonderbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR gewählt werden.
Bereits am 4. September 1990 hatten Bürgerrechtler aus Protest gegen die westdeutschen Vorstellungen und aus Angst vor einer Verwässerung der Stasi-Aufarbeitung einige Räume der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg besetzt. Als ich am Abend nach den Gesprächen in Bonn zu ihnen fuhr, machte mir Bärbel Bohley Vorhaltungen, warum ich es erst jetzt für nötig hielte, sie aufzusuchen.
Es war nicht zu übersehen, dass ich ein distanziertes Verhältnis zu der Aktion hatte. Wieso bedurfte es einer Besetzung, fragte ich mich, wenn nahezu die gesamte Volkskammer erklärt hatte, dass sie die Einkassierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes nicht hinnehmen werde? Mochten sich Schäuble, Diestel und Kohl in diesem Punkt auch einig sein - sie hatten fast alle DDR-Abgeordneten gegen sich. Ich vertraute auf unsere Stärke, und ich verhielt mich wie ein demokratischer Fundamentalist: Wir haben die Demokratie, also halten wir deren Regeln ein und besetzen keine Straßen und Gebäude, wenn es rechtswidrig ist und kein Notstand vorliegt.
Doch Bärbel Bohley beharrte darauf: »Wir müssen unsere
Radikalität beibehalten!« Schließlich versuchte Wolf Biermann in der ihm eigenen Weise zu vermitteln: »Ich habe den Eindruck, dass Gauck kein Schwein ist, dass er ehrlich ist und sich Mühe gibt.« Auch so konnte man beschreiben, was
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