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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Bärbel Bohley und Robert Havemann als Rechtsbeistand gewählt hatten, Informationen über sie an die Stasi weitergeleitet hatte.
    Während Heerscharen von Presseleuten Prominenten wie Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Lutz Rathenow, Ulrike und Gerd Poppe oder Wolf Biermann über die Schulter und in die betroffenen oder bemühten Gesichter blickten, fand ich mich plötzlich neben einem älteren Mann wieder, der über den Zeugnissen seiner ungerechtfertigten Haft saß. Schneller als er erzählen konnte, traten Tränen in seine Augen.

    Wir hatten für den 2. Januar 1992 etwa fünfzig Stasi-Opfer zur Akteneinsicht geladen. Nun saßen sie vor Stapeln von Dokumenten und lasen staunend oder erschrocken, was die Stasi jahrelang über sie zusammengetragen hatte.
    Er wollte eigentlich nur wissen, was in der Akte steht, um mit allem abschließen zu können. Aber mit der Erinnerung an die Haft kam die Erinnerung an seine Frau, die ihn verließ, während er eingesperrt war. Das Gespräch zwischen uns war nur kurz. Aber mehr als durch alle Äußerungen der prominenten Gäste habe ich durch Blick und Geste dieses Aktenlesers erkannt: Wer sich noch einmal seiner Vergangenheit stellt, wer auf den Schutz der selektiven Erinnerung verzichtet, der braucht Mut. Er wird vergangene Phasen wieder durchleben und unter Umständen auch von Gefühlen überwältigt werden. Er wird womöglich noch einmal klein sein und missbraucht, gedemütigt, ausgeschlossen, eingeschlossen, er wird einstigem Schmerz nah sein. Erinnern bedeutet eben nicht nur, etwas Vergangenes neu zu wissen, sondern auch, Vergangenes oder Verdrängtes neu zu fühlen.
    Die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die damals Vera Wollenberger hieß, fand bestätigt, was sie schon gewusst hatte, aber am
liebsten nicht geglaubt hätte: Dass ihr eigener Mann seit 1972 als IM Donald mit der Stasi zusammengearbeitet und kurz nach der Heirat begonnen hatte, sie auszuspionieren. Wie kann jemand ein liebevoller Vater sein und gleichzeitig Berichte über die eigene Frau schreiben? Sie hat später viel von ihrer bitteren Kränkung in Zorn und Angriffslust verwandeln können. Sie hat sich scheiden lassen, hat sich alles vom Leibe geredet und geschrieben, sich in die politische Arena geworfen und dort gekämpft.
    Drei Tische entfernt von ihr hat ein anderer gelesen, der Schriftsteller und Lyriker Ulrich Schacht. Er wurde 1951 im sächsischen Frauenzuchthaus Hoheneck geboren, wo seine Mutter inhaftiert war, und hatte später selbst wegen angeblich staatsfeindlicher Hetze in seinen Gedichten einige Jahre im Zuchthaus gesessen, bevor er 1976 in die Bundesrepublik abgeschoben wurde. Dort hat er als Journalist in Hamburg gearbeitet, heute lebt er in Schweden. Ulrich Schachts Gesicht war nicht starr und nur mühsam beherrscht wie das von Vera Lengsfeld. Auch er fand Denunzianten und Verräter in seinem weiteren Umfeld, aber auch Trost: »Niemand von meinen Freunden hat mich verraten. Ich schreibe ihnen allen einen Dankesbrief!« Strahlend verließ er an jenem Tag die Behörde.
    Das werde ich nie vergessen - Erleichterung, Ernüchterung, Enttäuschung, Entsetzen, Wut, gemischt mit Lachanfällen und ungläubigem Staunen. Das bedrückende Gefühl, dass die vergangene Diktatur nur äußerlich vergangen war, aber in den Seelen der Menschen höchst gegenwärtig, ließ eine frühe Ahnung in mir wachsen, dass es lange, sehr lange dauern würde, bis wir auch innerlich befreit sein würden von ihrem Zugriff.
    Ein kleiner Wermutstropfen trübte in diesen aufregenden Tagen die Freude über die erste Akteneinsicht: Eines Abends fehlte im Lesesaal ein Band. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten unter den Bürgerrechtlern hatte ihre Auffassung »Meine Akte gehört mir« in die Tat umgesetzt und die Dokumente mit nach Hause genommen. Wir brachten sehr deutlich unsere Missbilligung zum Ausdruck. Am nächsten Abend zählte das Archiv einen Band zuviel.
So unbemerkt, wie er aus unserem Lesesaal verschwunden war, war er wieder zurückgekommen. Um den Bürgerrechtlern und ihrem Kampf für Freiheit und Demokratie unsere Reverenz zu erweisen, hatten wir auf jede Kontrolle am Ein-und Ausgang verzichtet.

Turbulente Jahre
    A us einem ersten Protestsignal war lawinenartig eine Massenbewegung entstanden, aus einer Wortmeldung des Sommers 1989 war am Ende des Jahres eine Revolution geworden. Doch anders als in Polen oder in der Tschechoslowakei, wo Oppositionelle seit den siebziger Jahren immer wieder erörtert hatten, wie die

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