Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Zivilgesellschaft ihren Handlungsspielraum erweitern könne, ohne ein gewaltsames Eingreifen des Repressionsapparats zu riskieren, hatte es unter DDR-Oppositionellen keinerlei Diskussionen über eine organisierte, institutionelle Einflussnahme auf das politische Leben gegeben, ganz zu schweigen über eine politische Linie gegenüber Westdeutschland. Unser Vorgehen erfolgte eher als Reaktion auf die Straße, einer gemäßigten und besonnenen, aber auch zornigen und entschlossenen Straße, die erst ihren Anspruch als mündiger Souverän anmeldete und dann für viele Bürgerrechtler zu früh mit der Formel, Ost-und Westdeutsche seien »ein« Volk, den Zusammenschluss des geteilten Landes einleitete.
Der revolutionäre Charakter unseres Umbruchs kam wohl am deutlichsten im Kampf gegen den Staatssicherheitsapparat zum Ausdruck - einer Besonderheit in der DDR. Weder die Volksarmee noch die Volkspolizei hielten wir für so gefestigt, dass sie unter allen Umständen der kommunistischen Gewaltherrschaft gefolgt wären wie die Stasi, das »Schwert und Schild der Partei« - eine Bezeichnung übrigens, die ich damals noch gar nicht kannte. Der schlagkräftigste, loyalste, fast ordensmäßig organisierte Kern der SED-Herrschaft verkörperte die spätstalinistische Struktur des Systems besonders sinnfällig; seine Entmachtung, so unsere Überlegung, würde den Hardlinern in der SED die Basis entziehen und nicht ohne Wirkung auf die Generalität und die Volkspolizei bleiben. Und so kam es auch.
Die entscheidende Erschütterung der alten Machtstrukturen
erfolgte am 4. und 5. Dezember durch die Besetzung der Stasi-Gebäude in verschiedenen Städten der DDR und endete am 15. Januar mit der Einnahme des Stasi-Hauptquartiers in Berlin-Lichtenberg. Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 war die Revolution - wie häufig zu lesen - keineswegs zu Ende gewesen.
Anfangs vermochte ich nicht zu erahnen, welche Erblast der Diktatur unserer Demokratiebewegung in die Hände gefallen war. Ich überblickte weder den Umfang noch die politische Bedeutung der bösen Hinterlassenschaft. Dann waren wir entsetzt: Erste Schätzungen der Archivare des Bundesarchivs ergaben 204 Kilometer Akten, davon etwa die Hälfte im Zentralarchiv in der Berliner Normannenstraße - wobei ein Meter Akten bis zu siebzig Vorgänge oder 10 000 Din-A-4-Blätter mit einem Gewicht von etwa dreißig Kilogramm enthielt. Das 1984 errichtete neunstöckige Zentralarchiv galt als das schwerste Haus in Berlin-Lichtenberg, denn Wände und Böden waren aus besonders dickem Beton. Es lag für die Öffentlichkeit verborgen hinter einem noch höheren, zwölfstöckigen Bürogebäude. Aufbewahrt wurden dort etwa 6 Millionen Personendossiers, davon 4 Millionen über Bürger der DDR, 2 Millionen über Bürger der alten Bundesrepublik, ferner Operativpläne für weitere Werbungen, Zersetzungsund Einsatzmaßnahmen, Einschätzungen der verantwortlichen Staatssicherheits-Stellen, auch Fotos, Filme, Tonbänder und die perversen Geruchsproben, gelbe Tücher, die - hatten sie einmal den spezifischen Geruch einer Person an den Geschlechtsteilen aufgenommen - in Einweckgläsern konserviert worden waren. Als das Bürgerkomitee den Komplex übernahm, stand er teilweise leer, er war auf Zuwachs angelegt.
Die Behörde des »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR« war keine Behörde wie jede andere, auch wenn sie wie eine obere Bundesbehörde aufgebaut war. Wir haben uns als Leuchttürme der Aufklärung verstanden.
Meistens erfuhren unsere Mitarbeiter viel Unterstützung in ihrem Umfeld. Am ersten Tag der offenen Tür in Berlin unter dem Motto »Durchzug bei der Stasi« strömten Abertausende in
die ehemals geheimen Gemäuer, es gab große Aufmerksamkeit und großes Interesse. In DDR-konformem oder gar feindlich reagierendem Milieu konnte es aber auch geschehen, dass unsere Mitarbeiter unter Rechtfertigungsdruck gerieten. Manche mögen sich zeitweilig gefürchtet haben; einer Mitarbeiterin wurde einmal eine Scheibe in ihrer Pankower Wohnung eingeworfen. Einige dürften sich für ihre Arbeitsstelle sogar geniert haben, schließlich hatten wir nicht wenige Mitarbeiter, die einst dem System nahegestanden hatten.
»Wenn man sich in der U-Bahn oder im Bus fürchtet, als Mitarbeiter unserer Behörde erkannt zu werden, dann begreift man nicht, welche große aufklärerische Funktion wir haben!«, habe ich einmal auf einer Personalversammlung im Friedrichstadtpalast gesagt.
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