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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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»Wer sich nicht zur Behörde stellt, der soll seinen Hut nehmen und gehen!« Großer Beifall.
    Das Gros der Behördenmitarbeiter, die zu 96 Prozent aus den neuen Bundesländern kamen, war überdurchschnittlich motiviert. Wir haben vorrangig ältere Frauen eingestellt, nicht nur, weil sie es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben würden, sondern weil die Frauen aus der DDR selbstbewusst, lebensklug und besser als die Männer mit den sich aus den Akten ergebenden Lebensschicksalen umgehen könnten. Sie alle waren und sind einer starken psychischen Belastung ausgesetzt. Ich weiß nicht, ob und wie ich es ausgehalten hätte, wenn ich tagtäglich mit diesen Akten und der darin enthaltenen staatlichen Perfidie konfrontiert worden wäre.
    Wir sahen uns einer Flut von Anträgen gegenüber; insgesamt waren es bis Frühjahr 2006 deutlich über 6 Millionen, davon allein fast 2,6 Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht. Mitte der neunziger Jahre haben wir bis zu 3500 Bescheide pro Tag mit Auskünften in einem Umfang von teilweise 200 Seiten verschickt. Das waren unglaubliche Erledigungszahlen, die nicht zuletzt erreicht werden konnten, weil die Zentrale und die sechzehn, über die neuen Bundesländer verstreuten Außenstellen gut aufeinander eingespielt waren. Wir hatten ein standardisiertes Verfahren
entwickelt, das in sechzehn Punkten eine mögliche IM-Tätigkeit beschrieb: Name, Zeitraum der Zusammenarbeit, IM-Kategorie, mit Verpflichtung, ohne Verpflichtung, Geld genommen oder nicht, Orden erhalten oder nicht, sich selbst aus der Zusammenarbeit gelöst oder nicht. 2007, sechzehn Jahre nach der Aktenöffnung, gingen noch gut 100 000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht ein, 2008 waren es immerhin noch 87000. Jeder braucht offensichtlich seine Zeit, um sich dem Thema zu stellen.
    Die Staatssicherheit verfügte über ein nahezu unbeschränktes Arsenal an Maßnahmen, um jeden beliebigen DDR-Bürger zu observieren und ihre Opfer zu entmutigen und zu »zersetzen«. Sie konnte einer öffentlichen Person ein Liebesverhältnis andichten oder das Foto eines oppositionellen Pastors vom FKK-Strand im Lebensmittelladen seines Dorfes aushängen. Sie konnte den beruflichen Aufstieg durch gezielte Kritik oder Verleumdung seitens eines IM bremsen - ein besonders hinterhältiges Vorgehen, da die Einwände auf den ersten Blick vollkommen unpolitisch schienen und der Betroffene häufig Kollegenneid, aber keineswegs »sicherheitspolitische« Belange dahinter vermutete -, und sie konnte Gerüchte streuen und Nicht-Angepasste als Stasi-Spitzel verdächtigen lassen, was deren Ruf in einer Friedens-oder Umweltgruppe zumeist vollständig ruinierte.
    Derartige »Zersetzungen« von Unbotmäßigen und oppositionellen Gruppen waren eines der Hauptziele der Stasi. Die Betroffenen sollten in ihrem Selbstbewusstsein erschüttert, in Widersprüche verwickelt und in eine Lage getrieben werden, in der sie Konfliktsituationen sozialer, persönlicher, beruflicher oder gesundheitlicher Art nicht mehr oder nur noch unter großer Anstrengung bewältigen konnten und damit in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt waren.
    Die Lesesäle der Behörde, die seit 1992 für die Akteneinsicht bereit standen, kennen das Lachen und das Weinen, den Groll und die Freude, die Wut und auch die Enttäuschung, wenn jemand weniger Dokumente als erwartet vorfand oder wenn diese banal und ungenau waren: »Wichtiger war ich nicht?« Sie kennen aber
auch bodenloses Erschrecken und niederdrückende Beklemmung, wenn sich herausstellt, dass Freunde, Verwandte oder Bekannte Zuträger des Systems waren und Teile des eigenen Lebens plötzlich in einem anderen Licht erscheinen.
    Der junge Theologiestudent Matthias Storck wusste beispielsweise nicht, wie es dazu gekommen war, dass er im Oktober 1979 auf offener Straße in Greifswald verhaftet und im Juli 1980 mit seiner Verlobten zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis wegen »landesverräterischer Agententätigkeit« und »Fluchtversuch« verurteilt worden war. Bis Dezember 1980 hatten sie gesessen - er in Cottbus und sie im Frauenzuchthaus Hoheneck -, dann waren beide durch die Bundesregierung freigekauft worden.
    Bei der Akteneinsicht nach 1989 fand er heraus, dass er von einem seiner besten Freunde verraten worden war, dem Pfarrer Frank Rudolph aus Herzfelde bei Berlin, alias IM Klaus. Jener hatte ihm ein Angebot zur Flucht zugespielt, deren Route über Polen laufen sollte, und obwohl Storck abgelehnt hatte, weil er als

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