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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Verrat als Teil der selbstverständlichen Loyalität gegenüber dem Staat akzeptiert hätte, auch dann nicht, wenn sich, wie in Diktaturen üblich, überdurchschnittlich viele Denunzianten fanden. Selbst in der NS-Zeit ist die geheime Zusammenarbeit mit der Gestapo nicht als selbstverständlich betrachtet worden. Heimtücke wurde und wird mit Recht als ein besonderer Anschlag auf den Mitmenschen verurteilt. »Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant«, dichtete Hoffmann von Fallersleben 1843. Denunziation rührt an uralte menschliche Ängste, an hilfloses Ausgeliefertsein, an Vertrauensmissbrauch und Verrat gegenüber einer Macht, die aus dem Dunkel heraus agiert.
    Wir vermuteten zwar, dass es viele Spitzel gegeben habe. Aber wohl niemand hat angenommen, dass das Ministerium für Staatssicherheit beim Zusammenbruch der DDR neben seinen etwa
90 000 hauptamtlichen Mitarbeitern noch 174 000 aktive Inoffizielle Mitarbeiter führen würde - für 16 Millionen Menschen, das heißt für eine Bevölkerung etwa so groß wie die Nordrhein-Westfalens. Mit 31 000 Personen hatte die Gestapo am Ende des Krieges deutlich weniger Mitarbeiter und war zudem nicht nur für das Großdeutsche Reich mit rund 80 Millionen Einwohnern, sondern auch für Teile außerhalb des Reiches zuständig.
    Die nationalsozialistische Geheimpolizei ging zweifellos ungleich brutaler gegen ihre politischen Gegner vor und hat sie nicht nur aufgespürt, sondern in vielen Fällen auch physisch vernichtet. Doch auch die Stasi ließ sich leiten von der neurotischen Vorstellung, Sicherheit sei zu erreichen durch ständige Intensivierung und Perfektionierung von Observierung und Einschüchterung. Sie bevorzugte allerdings die »flächendeckende Überwachung«. Immer fand sie Gründe, den Apparat zu vergrößern und die Zahl der IM zu erhöhen: Nach dem Mauerbau 1961 sollte die Flucht der DDR-Bürger vereitelt, nach dem deutsch-deutschen Grundlagenvertrag 1972 die durch Berührung mit den »feindlichen« Westbesuchern entstandene ideologische Beeinflussung eingedämmt werden. 1975 erreichte die Zahl der IM mit 180 000 ihren höchsten Stand; während der gesamten DDR-Zeit haben sich insgesamt 600 000 Personen als Zuträger für das MfS betätigt.
    Immer wieder gab es Menschen, die sich überzeugen, verführen, bestechen, erpressen oder zwingen ließen. Die Palette der Anwerbungsversuche war breit. Andererseits hat sich etwa jeder dritte DDR-Bürger einem Anwerbungsversuch meist ohne größere oder gar keine Sanktionen entzogen; in den letzten Jahren sollen sogar drei von vier Personen eine Zusammenarbeit abgelehnt haben - so meine Geschwister Eckart und Marianne und drei von vier Jugendlichen in meiner Gemeinde.
    Da war beispielsweise Ulrike, ein junges Mädchen aus einem atheistischen, gut situierten, aber problematischen Elternhaus, die inzwischen Religionslehrerin in Brandenburg geworden ist. Die Begegnungen mit unserer warmherzigen Katechetin übten auf
sie eine regelrechte Sogwirkung aus. Sie musste im kirchlichen Rahmen nicht sagen, was sie nicht glaubte, und sie musste nicht schweigen, wenn sie innerlich aufbegehrte. Die Gemeinde wurde eine Art Heimat für sie. Auf Wunsch der Eltern war Ulrike wie alle anderen Mitglied in der Pionierorganisation und später in der FDJ geworden; in der Schule verhielt sie sich zunächst angepasst, wollte nicht auffallen, war sehr ängstlich. In der neunten Klasse entschied sie sich dann aber, geradezustehen für das, was sie dachte, und begann, eine Halskette mit einem Kreuz auch in der Schule zu tragen.
    Ulrike geriet unter Druck, besonders durch den stellvertretenden Schulleiter, der sie vor der Klasse bloßstellte und ihr androhte, sie müsse mit einem Schulverweis rechnen, wenn sie die Halskette nicht ablege. Da nahm sie »die Kirche« als ihr Rückgrat mit in die Schule: Auf die Rückseite ihres Schulaufgabenheftes schrieb sie ein Gebet, das sie las, wenn sie angegriffen wurde und sich fürchtete. Vor sich auf den Tisch stellte sie eine Zahnbürste, Symbol einer nur für sie entschlüsselbaren Botschaft von Martin Luther King, der den farbigen Kindern in seiner Umgebung erzählt hatte: »Wenn ihr ins Gefängnis kommt - und damit müsst ihr rechnen -, dann wird man euch alles nehmen, was ihr in der Hosentasche tragt. Allein eure Zahnbürste könnt ihr behalten. Deshalb tragt sie immer bei euch zum Zeichen, dass ihr bereit seid, ins Gefängnis zu gehen!« Wir haben oft das Lied gesungen, das ein

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