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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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kirchlicher Liedermacher dazu verfasst hatte, was die SED immer wieder zu Protesten bei den Bischöfen veranlasste:
    Hast du deine Zahnbürste dabei,
Du wirst sie noch gebrauchen.
Man sperrt heute viele Menschen ein,
Die gegen Unrecht sind.
    Unter den Mitschülern galt Ulrike als ein wenig verrückt oder zumindest als sonderlich, dabei handelte sie auf ihre Weise sinnvoll. Weil sie ihrer eigenen Kraft noch nicht genügend vertrauen
konnte, nahm sie die Zahnbürste mit, die sie nach ihrer psychologischen Ausbildung als »Übergangsobjekt« erkannte, als ermutigende Kraft von außen. So hielt sie stand, als sie eines Tages zur Direktorin gerufen wurde. Zwei Männer warteten dort im Nebenzimmer auf sie, zwei fremde Männer, die sie noch nie gesehen hatte, die aber erstaunlich gut unterrichtet waren. Sie wüssten, sagten die Männer, dass Pastor Gauck ihr väterlicher Freund sei. »Aber wir machen uns große Sorgen um ihn. Mit dem, was er tut, schadet er sich und seiner Familie.« Sie sei doch sicherlich daran interessiert, ihm zu helfen? Vielleicht könne sie bei einem Treffen in der nächsten Woche erzählen, was er plane?
    Der Anwerbungsversuch erfolgte, weil Ulrike als »labil« galt. In ihrer Staatssicherheits-Akte fand sie später Mitschnitte von Telefonaten, in denen sie mutlos und verzweifelt über die äußerst schwierigen Beziehungen zu den Eltern und ihre oft schweren Depressionen erzählt hatte. Wer weiß, wie Ulrike auf die fürsorgliche Offerte reagiert hätte ohne die Kraft, die sie im Glauben und in der Gemeinde gefunden hatte. So kam sie zu mir, und wir legten eine Taktik fest. Sie würde sich wie verabredet wieder mit den Staatssicherheits-Leuten treffen und ihnen scheinbar naiv, wenn auch mit klopfendem Herzen erklären: Sie habe ihrem väterlichen Freund Pastor Gauck sogleich berichtet, dass sich die Staatssicherheit Sorgen um ihn mache. Nach diesem Gespräch haben die Männer von einer Zusammenarbeit mit Ulrike Abstand genommen, und ich habe bei meinem nächsten Treffen mit dem Referenten für Kirchenfragen beim Rat der Stadt scharfen Protest eingelegt: »Sollen jetzt schon Halbwüchsige und Kinder als Spitzel angeworben werden?«
    Es kam nicht selten vor, dass die Stasi bei Jugendlichen das Bedürfnis nach Fürsorge gezielt ausnutzte. Wer aus zerbrochenen oder zerstrittenen Familien stamme, sich alleingelassen fühle und die elterliche Zuwendung vermisse, so die Erfahrung, die in ein »Anforderungsprofil« einfloss, war verführbar. Unter Umständen ließ sich ein Jugendlicher in dieser Situation auf eine Zusammenarbeit ein, weil er vom Führungsoffizier ein wenig jener Geborgenheit
und Sicherheit erhoffte, die ihm so bitter fehlte. Die Führungsoffiziere schlüpften dann in die Rolle des Ersatzvaters, halfen bei der Schul-und Berufsausbildung, förderten die Karriere und waren zur Stelle, wenn die Jugendlichen jemanden suchten, mit dem sie ihre Probleme besprechen konnten.
    Ulrike hatte sich entzogen, indem sie sich dekonspirierte. In der Regel galt die Person damit als unzuverlässig und wurde in Ruhe gelassen. Andere entzogen sich nicht, weil sie einer Bestechung erlagen, zu ängstlich waren oder einfach nicht nein sagen konnten. Mit ihrer IM-Tätigkeit zahlten sie dafür, dass sie ihren Studien-oder Berufswunsch realisieren, in den Westen reisen, Westbesuch empfangen oder auch ein Wassergrundstück erwerben konnten. Wieder andere wagten nicht nein zu sagen, weil sie erpresst wurden. Durch die IM-Tätigkeit entgingen sie einer strafrechtlichen Verfolgung etwa bei Fahrerflucht, verbotener Prostitution oder Missbrauch von Minderjährigen.
    Aus den Akten kenne ich den Fall eines Kirchenmannes aus der Zeit, als Homosexualität in der Gesellschaft noch weitgehend als pervers verachtet wurde. Die Ehefrau wusste nichts, die Kinder wussten nichts, die Kirche wusste nichts. Der Mann wurde hilflos, als die Stasi ihn mit seiner Beziehung konfrontierte, und unterschrieb ein detailliertes »Geständnis«, mit dem das MfS ihn vollkommen in der Hand hatte. Das Ganze war so schambesetzt, dass er - obwohl antikommunistisch und ein Gegner des Systems - hilflos im Netz zappelte, unfähig, sich zu befreien. Während ich die Akten las, empfand ich Mitleid mit dem Erpressten, vor allem aber Ekel und Wut gegen die Menschenverächter von der »Firma«. Mit ihren Auftraggebern von der SED priesen sie beständig die Menschlichkeit des ozialistischen Systems, in ihrem Verhalten war die Arroganz der Übermächtigen aber so

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