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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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grenzenlos, dass sie vor keiner Missachtung der Persönlichkeitsrechte zurückschreckten und, wenn es keinen anderen Weg zum Ziel zu geben schien, wie kriminelle Erpresser auftraten.
    In Fällen wie diesem fällt es schwer, einen IM einen Täter zu nennen. Auch dem Informanten drohten Entlassung, Bloßstellung,
Gefängnis. Doch indem er sich der eigenen Bestrafung durch Denunziation anderer entzog, wurde er eben auch schuldig.
    Fast schon schizophren lebten IM, die in Friedens-und Umweltgruppen oder kritischen Intellektuellenzirkeln eingesetzt waren, mit deren Zielen sie sich identifizierten. Einige wollten dann die »Legende« glauben, die ihnen die Stasi suggeriert hatte: Sie könnten durch ihre Berichte dazu beitragen, dass die politische Führung endlich erführe, was in den Gruppen wirklich gedacht würde, und dies in ihrer Politik berücksichtigen. Bei manchen führte die doppelte Existenz auch zu Größenfantasien, etwa bei Sascha Anderson, der bei der Staatssicherheit Anerkennung fand, weil er seine Schriftstellerkollegen Elke Erb, Wolfgang Hilbig, Uwe Kolbe und Lutz Rathenow verriet, und der unter den Oppositionellen wegen seiner Umtriebigkeit und seiner organisatorischen Fähigkeiten geschätzt wurde, da er zahlreiche Untergrundpublikationen herausgab, in denen er jene publizieren ließ, die er gleichzeitig bespitzelte. Ähnlich gespalten muss die Persönlichkeit von Ibrahim Böhme gewesen sein, lange ein loyaler IM, der wohl zu seiner eigenen Freude in der Opposition so reüssierte, dass er in der Wendezeit zum ostdeutschen SPD-Chef aufstieg. Der Begriff »Doppelleben« vermag in solchen Fällen nur die äußere Form zu erfassen, nicht aber das Zerstörerische und Perfide einer derartigen Existenz.
    Weitgehend ohne inneren Zwiespalt aufgrund ihrer Stasi-Zuträgerarbeit lebten wahrscheinlich nur überzeugte Kommunisten beziehungsweise Mitglieder der SED, die es für selbstverständlich hielten, die Politik des Staates in jeder Weise zu unterstützen. Sie fühlten sich durch die Anwerbung besonders geehrt, waren stolz darauf, auserwählt worden zu sein; sie glaubten, etwas Sinnvolles für ihr Land zu tun.
    Manchmal, wie im Fall von Ines Fleckstein, spielte sicher auch eine gewisse Abenteuerlust eine Rolle. Sie stammte aus einem linientreuen kommunistischen Elternhaus und war als 19-Jährige zum Studium der Sonderschulpädagogik nach Rostock delegiert worden. Ihre Anwerbung erfolgte 1982 gezielt für einen Einsatz
in der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) Rostock; sie sollte sowohl über deren Friedenskreis berichten als auch über den tudentenpastor Christoph Kleemann.
    IM Gisela gehörte bald zur studentischen Leitungsebene der ESG. Bereits im zweiten Semester wurde sie Vertrauensstudentin, tauchte in verschiedenen anderen Initiativen auf und war plötzlich überall. Aufgrund ihres Eifers beschloss die Staatssicherheit, sie als Einflussagentin für wichtige Posten innerhalb der Kirche aufzubauen. Damit begann ein vollständiger Wandel ihrer Biographie. Sie trat aus der SED aus, wobei sie weder den Genossen noch ihrer Mutter, einer überzeugten Kommunistin, die wahren Gründe für diesen Schritt erläutern durfte. Das Sonderschulstudium gab sie auf, begann mit dem Studium der Theologie und bemühte sich um Arbeit im kirchlichen Bereich. Anfängliche Unkenntnis und Unsicherheit sah man ihr nach, sie wollte angelernt sein, kam sie doch aus einem völlig atheistischen Umkreis. Bald ließ sie sich taufen. Zur Taufe erschienen ihre Kommilitonen, ein gutes Dutzend Theologiestudenten, legten ihr die Hand auf und beteten für sie. Wenig später ließ sie sich auch kirchlich trauen; dieselben Kommilitonen kamen zu ihrer Hochzeit und wünschten ihr Gottes Segen. IM Gisela schien der lebendige Beweis dafür, dass die Kirche ihre missionarische Kraft noch nicht verloren hatte.
    Nach der Hochzeit tauchte jedoch eine unvorhergesehene Schwierigkeit auf. Der Ehemann billigte die kirchliche Gebundenheit seiner Frau nicht unbedingt, und noch weniger verstand er sie. Es gab Spannungen in der Ehe. Da warb die Staatssicherheit - erster Schritt - den Ehemann ohne Wissen der Ehefrau ebenfalls als IM. Dann führte sie - zweiter Schritt - die Eheleute im Hotel »Ostsee« in Kühlungsborn zusammen. Jedem wurde die Begegnung mit einem anderen IM angekündigt, jeder wurde in ein Zimmer geführt, dann öffnete sich die Tür - und statt eines Fremden sahen sie den Partner, der ihnen der Allervertrauteste doch nicht gewesen war. Fortan

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