Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
eines Völkerstrafrechts.
In Deutschland sind nach 1945 wie nach 1990 aus unterschiedlichen Ecken Proteste gegen diese »Siegerjustiz« erhoben worden. Was als rechtspolitisches Argument daherkam, entpuppte sich allerdings oft als tiefgreifende Angst vor kritischer Selbstreflexion, vor allen Formen von »re-education«, vor dem Rückblick auf das, was das Leben in der Zeit der Diktatur ausgemacht hatte. »Es war doch nicht alles schlecht beim Führer!«, sagten die Großeltern. Und ein Teil der Eltern heute: »Unrechtsstaat? Es war doch nicht alles schlecht am Sozialismus!« Sie wollten und wollen sich schützen vor der Scham, mitgemacht, zugeschaut, weggeschaut oder gar nichts bemerkt zu haben.
Seit Karl Jaspers nach dem Krieg seinen Essay »Die Schuldfrage« veröffentlicht hat, ist uns ein vertieftes Verständnis von Schuld im öffentlichen Raum zugewachsen. Ich selber habe den Text erst 1990 gelesen, aber sehr viel daraus gelernt. Schuld, so Jaspers, ist nie nur die Schuld für Verbrechen, die von Richtern geahndet wird. Sie tritt auch auf als moralische Schuld, beurteilt vom eigenen Gewissen und demjenigen, an dem ich mich vergangen habe: Er allein hat das Recht, mir diese Schuld zu vergeben. Schuld tritt ferner auf als metaphysische Schuld, bei der sich
der Mensch als Sünder erlebt, der gegen göttliche Gebote verstoßen hat und nur durch Reue eine Vergebung von Gott erhalten kann. Schließlich spricht Jaspers von der politischen Schuld, die jeden Deutschen als Staatsbürger in eine politische Haftung nimmt: Wir haben geduldet, dass ein solches Regime wie der Nationalsozialismus bei uns entstanden ist, auch wenn viele keine moralische Mitschuld an ihm tragen.
Mit der Formulierung von der »politischen, juristischen und historischen Aufarbeitung« im Stasi-Unterlagen-Gesetz haben wir in Anlehnung an Jaspers versucht, dieser mehrdimensionalen Schuld Rechnung zu tragen.
Letztlich war unser Umgang mit der Vergangenheit der DDR nach 1989 weit maßvoller als der Umgang in den Westzonen mit der Nazi-Vergangenheit unmittelbar nach dem Krieg. Wir verzichteten auf eine »Entkommunisierung« analog zur Entnazifizierung, wie sie etwa die Tschechen praktizierten, als sie die Mitglieder der KPČ aus dem öffentlichen Dienst entfernten. Im frei gewählten DDR-Parlament gab es 1990 durchaus Abgeordnete, die das ganze MfS und die ganze SED zur kriminellen Vereinigung erklären wollten, aber die Mehrheit empfand diese Lösung als unverhältnismäßig, weil jedermann wusste, dass die SED keine Kaderpartei von Überzeugten darstellte, sondern viele der 2,3 Millionen Mitglieder einfache Mitläufer waren. Zudem wollten wir Integrationssignale an die einstigen SED-Mitglieder aussenden; noch hegten wir die Illusion, dass die Affinität zu dem System schnell verschwinden würde. Von heute aus betrachtet wäre es politisch wohl eher angemessen gewesen, die Führungselite der SED gleichzustellen mit den Stasi-Offizieren und den IM. Ich finde es bedauerlich, dass Mitglieder von SED-Kreis- und Bezirksleitungen sowie des Zentralkomitees nach der Wiedervereinigung weit bessere Karrierechancen hatten als kleine IM. Das stellte die Fürsten von einst unverdientermaßen besser als die Bauern - ein politischer Fehler.
In unseren Nachbarländern ging man andere Wege. Die Polen haben sich zunächst scheinbar generös, christlich geprägt und zukunftsorientiert
für eine gruba kreska entschieden, einen dicken Schlussstrich: Wir bieten euch die Hand, ihr ehemaligen Eliten. Man hatte darauf gehofft, die alte Elite würde sich beschämt zurückhalten, das Opfer generös auf jede Form von Aufdeckung und Wiedergutmachung verzichten und die Öffentlichkeit an der Wahrheit nur bedingt interessiert sein. Ein kleines taktisches Zugeständnis war in dieser Geste auch enthalten: Immerhin hatte der erste nicht-kommunistische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki 1989 noch drei Monate lang notgedrungen mit den Kommunisten zu koalieren und sich mit einem Innenministerium und damit einem Sicherheitsdienst in den Händen von General Kiszczak zu arrangieren, einem alten Kampfgefährten von General Jaruzelski aus der Zeit des Kriegsrechts 1981. Wie sich später zeigte, waren der intendierte innere Frieden und der innere Zusammenhalt der Gesellschaft mit einem Schlussstrich nicht zu erreichen - der vorübergehende Aufstieg der konservativen Brüder Kaczyński verdankt sich wesentlich dem Protest gegen die mangelnde Aufklärung über den Sicherheitsdienst
Weitere Kostenlose Bücher