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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Mitarbeit aufgekündigt. Ich kannte sein ganzes Leben, seine Liebesgeschichten wie seine Sorgen - nur die Stasi-Zuarbeit hatte er nie erwähnt. Warum nicht?
    »Ich habe mich so geschämt.« Tränen traten ihm in die Augen und im selben Moment auch mir. Spontan gab ich ihm die Hand und drückte ihn. Spät abends auf dem Nachhauseweg fragte ich mich: War das eigentlich politisch korrekt? Aber ich wusste: Wäre er in den Raum getreten und hätte wie so viele andere IM erklärt, er habe nur das Beste gewollt, niemandem geschadet, mir sogar geholfen, denn wenn statt seiner Müller oder Meier berichtet hätten, wäre alles viel schlimmer gekommen, dann, ja dann hätte ich gesagt: »Du hast dich nicht angemeldet, erwarte nicht, dass ich lange Gespräche mit dir führe«, und das wäre noch höflich gewesen, denn in mir wäre Wut aufgekommen, dass ich ihm, dem Verräter, noch dankbar sein sollte. Als er aber seine Scham nicht verbarg, da wusste mein Herz vor meinem Verstand, was ich zu tun hatte.
    Eine ähnlich spontane Geste hatte es bereits einmal in der Volkskammer gegeben. Der junge Abgeordnete Rainer Börner, damals PDS, hatte sich im Unterschied zu den meisten anderen verstrickten Abgeordneten im Plenum zu seiner IM-Tätigkeit bekannt. Und plötzlich war der ganze Saal ruhig gewesen - alle
hatten gespürt, mehr kann er jetzt nicht tun. Damals war ich ohne zu überlegen durch den Saal gegangen, hatte ihm die Hand gegeben und gesagt: »Nicht wegen damals, aber wegen jetzt.«
    Und noch ein drittes Mal ist mir das Vergeben leichtgefallen, bei einem Mann, der mein Freund wurde. Klaus Richter war Kommunist gewesen, nicht weil er herrschen, sondern weil er das Gute tun wollte; in seiner Familie hatte es Kommunisten gegeben, die unter Hitler verfolgt worden waren. Ich lernte ihn 1990 kennen, als er den Posten des Geschäftsführers bei der Fraktion von Bündnis 90 übernahm. Da war er schon viel weiter von der kommunistischen Ideologie entfernt als manche unserer Brüder und Schwestern, die als ehemalige K-Gruppen-Mitglieder nun bei den Grünen waren, unseren parlamentarischen Weggefährten.
    Aber einst war Klaus so überzeugt gewesen, dass er bei der Hauptverwaltung Aufklärung der Stasi gelandet war. Das Leben, so schien es ihm kurze Zeit, würde spannend werden: Westreisen, Adrenalinstöße. Doch schon bald stieß ihn das alles ab. Wie banal die Zeit als Spionagelehrling, wie primitiv die Ausbilder. Dann tauchte eine Freundin auf. Was sollte er ihr sagen, was er tue? Er schaffte es zu gehen, was nicht leicht war für jene, die einmal eingeweiht waren.
    »Wen hast du verraten«, fragten wir, als er seine Geschichte vor der Fraktion ausbreitete. Wir fanden nichts, was uns gehindert hätte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er hatte die Wahrheit gesagt, niemand musste ihn mehr zornig beschämen, beschimpfen, belehren, er war schon belehrt. Wir spürten, er hatte schon härter, als wir es je hätten tun können, mit sich selbst abgerechnet. So konnten wir mit ihm leben. Merkwürdig war das schon, denn vor ihm saßen ausnahmslos langjährige Opfer und Gegner der Stasi.
    Später habe ich Klaus Richter in unsere Behörde aufgenommen und wo auch immer und gegen wen auch immer verteidigt. Ich konnte mich hundertprozentig auf ihn verlassen. Man hätte ihn mitten in der Nacht aufwecken und vor zwanzig Altlinke aus
dem Westen stellen können, vor dreißig konservative Abgeordnete aus den USA und in jede Zusammenrottung von roten Reaktionären in nordostdeutschen Niederungen. Er hätte immer zu seiner neuen Freiheit und zu unserer Sache gestanden.
    Im Rückblick scheint mir unsere Lösung trotz aller Turbulenzen, Einschränkungen und Fehler doch gelungen. Wir haben den Opfern ihre Würde zurückgegeben, Rehabilitierungen und Entschädigungen ermöglicht, wir haben einen relativ weitgehenden Elitenwechsel in Politik und Gesellschaft erreicht, einen Teil der Schuldigen und politisch Verantwortlichen an den Rand gedrängt, einige wenige auch bestraft.Vor allem aber haben wir einen Raum für Debatten über die jüngste Geschichte geschaffen und erfahren: Aufklärung ist möglich. Dies zu erleben, war ein bleibender Gewinn der turbulenten Jahre.
    Schneller als gedacht waren die ersten fünf Jahre als Bundesbeauftragter dann verflossen. Das Erfinden und Erklären unseres Erneuerungansatzes und die enorme Arbeitsfülle sorgten für eine gefühlte Beschleunigung der Zeit. Und plötzlich stand die Wahl des Bundesbeauftragten wieder auf der

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