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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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schützen. Zur Eröffnung strömten dann mehr Besucher in die für Bittgottesdienste zugelassenen drei Kirchen in der östlichen Stadthälfte, als die Kirchen fassen konnten, und auf der feierlichen Abschlusskundgebung im Olympiastadion konstatierte Kirchentagspfarrer Heinrich Giesen vor mehr als 60 000 Teilnehmern: »Ein Schatten lag über uns. Wir vermissten sehr viele Brüder!«
    Der Ton zwischen den beiden Staaten war rau geworden. West-Berlin spiele die Rolle eines »Kanals«, über den »Menschenhandel« betrieben werde und Lebensmittel aus der DDR abflössen, hatte Walter Ulbricht im März 1961 auf einer Tagung der Warschauer-Pakt-Staaten erklärt. Zwei Monate später berichtete der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin, Michail Perwuchin,
von Plänen der ostdeutschen Kommunisten, die »Tür zum Westen« zu schließen, um der massenhaften Abwanderung Herr zu werden. Lange war Ulbricht durch Moskau von derart repressiven Maßnahmen abgehalten worden. Dies änderte sich jedoch im Juni 1961, nach dem Gipfeltreffen von Chruschtschow und Kennedy in Wien. Wie schon mehrfach seit Ende 1958 hatte der sowjetische Parteichef gedroht, einen einseitigen Friedensvertrag mit der DDR zu schließen, falls die Westalliierten einer Umwandlung des Status von Berlin in eine »Freie Stadt« nicht zustimmen würden - was die Aufkündigung des Viermächtestatus und die Verdrängung der Westmächte aus West-Berlin bedeutet hätte. Als Kennedy dem Ultimatum erneut eine Absage erteilte, musste Ulbricht von Seiten Chruschtschows nicht länger Widerspruch fürchten. Er konnte in Ost-Berlin zur Vorbereitung des Mauerbaus ein »Sicherungskommando« von 1500 Volkspolizisten aufstellen und die Bereitschaftspolizei auf 4000 Mann verstärken.
    Tante Lisa hat die Gefahr gespürt. Sie war die Tante meiner Frau, ein Flüchtling aus Königsberg. Während es meine Frau an die Ostsee verschlagen hatte, war ihre Tante Lisa in der Paulsborner Straße in West-Berlin gestrandet. Wir sind nicht häufig bei ihr gewesen, wollten uns als Verliebte nicht unter verwandtschaftliche Kontrolle begeben, aber manchmal übernachteten wir auch bei ihr, wenn wir am Wochenende Berlin besuchten.
    Tante Lisa arbeitete im Büro einer öffentlichen Verwaltung und hatte ein Verhältnis mit einem einflussreichen SPD-Mitglied, der einen wichtigen Posten im Ostbüro seiner Partei bekleidete und immer nur mit Decknamen erwähnt wurde. Menschen wie er lebten gefährlich, sie standen im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit, denn sie widmeten sich nicht nur der Betreuung der Flüchtlinge im Auffanglager Marienfelde, sie erkundeten auch die politische und wirtschaftliche Lage in der DDR, schleusten Informationsmaterial nach Ost-Berlin und knüpften ein konspiratives Verbindungsnetz mit ostdeutschen Vertrauensleuten. Die Ostbüros der verschiedenen West-Berliner Parteien wurden von Stasi-Leuten unterwandert, manchmal auch ausgeraubt, ihre
Mitglieder öffentlich diffamiert, einige entführt und in spektakulären Schauprozessen in Ost-Berlin zu hohen Haftstrafen verurteilt.
    Tante Lisa war jedenfalls durch ihren Geliebten immer über die Entwicklungen in Ost-Berlin informiert. Sie wusste, dass sich die wirtschaftliche Lage in der DDR dramatisch verschlechterte, dass Ost-Berliner »Grenzgänger«, die im Westteil arbeiteten, aus ihren Ost-Berliner Wohnungen ausgewiesen wurden und hochwertige Konsumgüter wie Autos, Motorräder, Fernsehgeräte, Kühlschränke oder Waschmaschinen in Ost-Berlin nur noch an Personen verkauft werden durften, die für sich und ihre Angehörigen ein Arbeitsverhältnis im Osten nachweisen konnten. Sie hörte, dass die Zahl der Flüchtlinge beständig stieg und im Juli den höchsten Stand seit 1953 erreichte. Etwa 17 500 Lehrer - davon 850 Hochschullehrer - hatten das Land seit 1954 verlassen, 3500 Ärzte, 1400 Zahnärzte, 300 Tierärzte, dazu unzählige Facharbeiter, Handwerker, Einzelhändler und Arbeiter aus der Landwirtschaft. Das waren zum großen Teil Menschen, die in der DDR ihre Ausbildung erhalten hatten, ihr aber nun ihre Dienste verweigerten. Die DDR blutete aus.
    Lange, davon war Tante Lisa überzeugt, würde Ulbricht einer solchen Entwicklung nicht mehr tatenlos zusehen. Wahrscheinlich würden die Russen einmarschieren, das wolle sie nicht noch einmal erleben, sie käme aus Ostpreußen. So eröffnete sie uns, als wir sie Anfang August 1961 wieder einmal besuchten, sie würde nach Bayern umziehen. Bei Franz Josef Strauß könne man sicher

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