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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Zielvorgabe. Sie sollten die Sowjetunion lieben, die mperialistischen Kriegstreiber hassen und mit Fackeln, Fahnen und Transparenten an den Ehrentribünen vorbeiziehen, in Reih und Glied, uniform, »immer bereit«. Fast alle Kinder und Jugendlichen waren bei den Jungpionieren und in der FDJ organisiert - bei den Pionieren näherte sich die Mitgliedsquote fast hundert Prozent, der FDJ traten Mitte der achtziger Jahre noch achtzig Prozent der Jugendlichen bei. Die Mitgliedschaft sagte jedoch nur etwas über den Grad der Anpassung aus, über die ideologische Überzeugung verriet sie nichts.
    Ein Großteil der Jugendlichen in meiner Gemeinde ging noch zur Erweiterten Oberschule, einige waren bereits in der Lehre. Wohl alle sind zweigleisig gefahren: Sie waren Mitglieder der Pioniere beziehungsweise der FDJ und kamen gleichzeitig zur Jungen Gemeinde. Sie feierten Jugendweihe und einige Monate später Konfirmation. Sie lebten zwei Leben, das eine mehr oder weniger angepasst in Schule und FDJ, das andere frei und unzensiert in der Familie, in der Clique oder in der Kirche. Die Verstellung und Verleugnung in der Schule verursachte zwar eine gewisse Spannung, doch diese Spannung zu ertragen erschien den meisten leichter als die ständigen Angriffe, die eine offene Positionierung nach sich gezogen hätte.
    Die Jungen Gemeinden bildeten das Gegengewicht zu der Einheitsfront der Spießer und staatlichen Ideologen gegen jene, die aus der Reihe tanzten. Bei uns wurde niemand als Gammler beschimpft oder diskriminiert wegen seiner langen Haare, seiner Überzeugungen, weil er Jeans trug, Plastiktüten aus dem Westen benutzte oder weil er - so Ulbricht seinerzeit - »jeden Dreck (kopiert), der vom Westen kommt wie das ›Je-Je-Je‹ und wie das alles
heißt« von den Beatles. Ich bot den Jugendlichen jederzeit meinen Rat, suchte ihnen aber nichts aufzuzwingen, denn letztlich musste jeder die Folgen seines Handelns selbst tragen. Manchmal duckten sie sich weg, manchmal standen sie aufrecht. Einige waren gegenüber der Schule zu Zugeständnissen bereit, um die schulische Laufbahn nicht zu gefährden oder nicht ständig attackiert zu werden, andere wollten sich mit dem Mut der Jugend gerade zu ihrer Andersartigkeit bekennen.
    Die Zwillingsbrüder Martin und Andreas Firzlaff beispielsweise, die zu uns in die Christenlehre kamen, haben es am Ende der zweiten Klasse noch widerspruchslos geschehen lassen, dass die Klassenlehrerin ihnen bei der Zeugnisverteilung einfach die blauen Pioniertücher umband. So stand ihrer Delegierung auf die Herder-Schule mit einem erweiterten Russischunterricht nichts mehr im Wege. Etwas später allerdings nahmen die Zwillinge mit anderen Kindern an der Christenlehre in einer Privatwohnung teil, obwohl ein ZDF-Team erschien und filmte, wie im Evershagener Neubaugebiet kirchliche Arbeit ohne ein Kirchengebäude stattfand. Am Tag nach der Sendung hatte die Klasse ihre Sensation: Die Firzlaffs waren im Westfernsehen! Das war spektakulär. Wer kam schon ins Westfernsehen? Die Zwillinge wollten nichts bestreiten und nicht leugnen. Sie waren stolz auf diesen Husa-renstreich - und litten dann doch unter den Folgen: Nach ihrem Auftritt im »Feindsender« wurden sie nicht mehr wegen guter Leistungen in das Goldene Buch der Schule aufgenommen; schon Monate vor Abschluss der zehnten Klasse erhielten sie die Mitteilung, dass sie trotz eines Leistungsdurchschnitts von 1,3 beziehungsweise 1,6 nicht zur Erweiterten Oberschule delegiert und somit nicht zum Abitur zugelassen würden. Immerhin wurde ihnen eine Berufsausbildung mit Abitur angeboten, so dass sie nach drei Jahren einen Abschluss machen konnten, der sie zu einem technischen Studium berechtigte.
    Für die allermeisten Pfarrerskinder war die Zweigleisigkeit von angepasstem Verhalten in der Schule und einem zweiten Leben in der Jungen Gemeinde von vornherein ausgeschlossen.
Sie erschienen am Montagmorgen nicht im blauen FDJ-oder im weißen Hemd mit einem blauen oder roten Halstuch zum Fahnenappell, sondern hoben sich in ihrer Alltagskleidung auffällig von allen anderen ab. Sie schwenkten nicht wie alle anderen am 1. Mai das »Winkelement«, riefen beim Vorbeimarsch nicht zur Tribüne empor: »Alles für das Wohl des Menschen! Hoch lebe die Partei!«, sondern blieben solchen Veranstaltungen meistens fern und riskierten damit einen Eintrag im Zeugnis, dass sie unentschuldigt gefehlt hatten. Oder sie handelten sich eine Fünf im Klassenbuch ein, wenn sie sich weigerten,

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