Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
aus Heinrich Heines Gedicht über die schlesischen Weber den Vers vor der Klasse zu rezitieren, in dem es heißt:
Ein Fluch dem Götzen, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt.
Einerseits hatte das Vorteile: Sie mussten sich nicht verstellen, nicht mit einer Schere im Kopf leben, sie wuchsen in ihren Familien ohne Denk-und Redeverbote auf. Auf der anderen Seite wurden sie aber leicht zu Außenseitern und waren schon in der Grundschule Angriffen und abwertenden, zynischen Bemerkungen seitens der Lehrer ausgesetzt und zu Rechtfertigungen herausgefordert, lange bevor sie einem Disput intellektuell gewachsen waren.
Unser Sohn Christian berichtete bereits kurz nach der Einschulung in Lüssow von einer ersten Auseinandersetzung. Wo denn sein Gott sei, hatte der Lehrer den arglosen Erstklässler gefragt, und der hatte ganz aufrichtig geantwortet: »Gott ist überall.«
»Etwa auch im Tank von meinem Motorrad?«, hatte der Lehrer höhnisch nachgehakt.
Ich stellte den Lehrer noch am selben Tag zur Rede: Wenn er so starke theologische und philosophische Interessen habe, stünde ich ihm als Gesprächspartner gern zur Verfügung. Eines aber
würde ich mir verbitten: einem Kind auf diese billige Weise seinen Glauben lächerlich zu machen.
Dass ich mich auch auf den Elternabenden nicht zurückgehalten habe, fand ich in den Stasi-Akten wieder. »Im September 1968 nahm Gauck an einer Elternversammlung der Klasse teil, in die sein Kind geht (2. Klasse)«, meldete eine Lehrerin der Stasi in Güstrow. »Hier brachte er in der Diskussion zum Ausdruck: ›Ich verstehe nicht, warum die Kinder bereits in der 2. Klasse mit Politik belästigt werden. Das kommt denen genauso aus dem Hals wie uns.‹ Von einem großen Teil der anwesenden Eltern erhielt er dazu Zustimmung. Die Klassenleiterin konnte sich mit ihrer politischen Meinung dazu nicht durchsetzen, so dass das Ziel der Versammlung nicht voll erreicht werden konnte.«
Christian lernte schnell, seine Andersartigkeit selbstbewusst zu vertreten. Eines Tages, er mochte vielleicht sieben Jahre alt sein, gab er keine Spende bei der Geldsammlung für die Sowjetarmee ab. Stattdessen erklärte er: »Wir sind Pastors, mein Vater mag keine Rote Armee.« So hatte er meine ausschweifenden Erläuterungen, warum wir nicht jede geforderte »Solidaritätsaktion« unterstützen würden, bündig auf »seinen« Nenner gebracht. Gesine war weniger schlagfertig. Sie schwieg und senkte den Kopf, als die Lehrerin von Jurij Gagarins Weltraumflug erzählt und sich dann demonstrativ an unsere Tochter gewandt hatte: »Nun sind unsere Kosmonauten im Weltall gewesen, aber deinen lieben Gott hat keiner gesehen!« Was hätte die Sechsjährige antworten sollen?
Die Schule blieb für unsere Kinder ein Problem, besonders nach dem Umzug nach Evershagen. Sie waren die Einzigen, die weder den Pionieren noch der FDJ angehörten und standen unter besonderer Beobachtung. Fast täglich sah sich Christian vor der ganzen Klasse mit spitzen Bemerkungen seines Deutschlehrers Dr. Möller konfrontiert. Möller war der Direktor der Schule und wurde in der achten und neunten Klasse auch noch sein Klassenlehrer. Christian sauge, so behauptete er immer wieder, mit dem Westfernsehen imperialistische Ideologie ein und repräsentiere mit seinen Jeans (die uns Bekannte aus dem Westen schenkten)
westliches Konsumdenken, ein Denken des Nehmens und nicht des Gebens. Als Christian im Deutschunterricht eine schlechte Zensur für seinen Lebenslauf erhielt, weil er nicht Auskunft darüber erteilt hatte, dass er »negativ« dem Staat gegenüber eingestellt sei und die Mitgliedschaft in der FDJ verweigert habe, meldete ich mich bei dem Direktor zu einer Unterredung an. Sie dauerte vier Stunden, der Parteisekretär der Schule nahm ebenfalls daran teil; nach erfolgloser Intervention schrieb ich eine Eingabe an den Stadtschulrat und erreichte zumindest, dass dem Direktor derartige Angriffe untersagt wurden.
Beide Söhne wurden nicht auf die Erweiterte Oberschule delegiert, was auf direktem Weg zum Abitur geführt hätte. Beide wurden auch abgelehnt, als sie über eine Berufsausbildung den Abiturabschluss anstrebten. Martin, obwohl sehr begabt und mit einem Notendurchschnitt von 1,4 in der zehnten Klasse entlassen, war irgendwie auch froh darüber. Er hatte die disziplinierende sozialistische Schule satt; sich als frecher Komiker rebellisch zu
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