Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
zeigen, hat ihm nicht mehr behagt. Befragt, was sein Berufswunsch sei, gab er in der Schule beim ersten Mal »Detektiv« an, beim zweiten Mal »selbständiger Bauer«. Sein Abstand zum System war nicht zu übersehen. Es hat ihn aber auch gequält, dass ihm trotz des guten Abschlusses selbst eine Lehrstelle als Autoelektriker in einem staatlichen Betrieb verweigert wurde. Schließlich kam er in derselben Firma wie Christian als Orthopädiemechaniker unter.
Christian verwand die Ablehnung zum Abitur schwerer. Er wollte Medizin studieren, wurde aber selbst dann nicht zum Studium zugelassen, als er einen Beruf erlernt und - auch das musste erlaubt werden - auf der Abendschule das Abitur nachgeholt hatte, also als Werktätiger antrat und nicht mehr als Sohn eines Pastors. Er könne im besten Fall Theologie studieren, wurde ihm mündlich mitgeteilt, alles andere könne er in der DDR vergessen.
Vor einer besonderen Herausforderung stand Gesine, als sie am Wehrkundeunterricht teilnehmen sollte. Dieses 1978 eingeführte Fach verpflichtete Jungen und Mädchen der neunten und
zehnten Klasse zu einem theoretischen Unterricht über Landesverteidigung sowie einen Wehr-beziehungsweise Zivilverteidigungskurs und die abschließenden »Tage der Wehrbereitschaft« unter kasernierten Bedingungen außerhalb der Schulen. Die Schüler hatten dabei Attrappen von Handgranaten zu werfen, mit einem Luftgewehr und einer Kleinkaliber-Maschinenpistole zu schießen und Übungen mit Gasmasken durchzuführen, die Mädchen wurden vor allem in Erster Hilfe und Evakuierungsmaßnahmen unterwiesen.
Gesine wollte nicht schießen. Ich bot ihr an, einen Brief zu schreiben, um sie vom Wehrkundeunterricht befreien zu lassen und den Streit mit den Lehrern auf meine Kappe zu nehmen. Doch mit fünfzehn Jahren wollte sie sich nicht mehr hinter dem Vater verstecken. Der ersten theoretischen Doppelstunde entkam sie durch hohes Fieber. Dann erschienen bei uns zu Hause zwei Mitschülerinnen, FDJ-Sekretärin die eine, FDJ-Kassiererin die andere, um zu locken und Druck zu machen: »Der Junge in unserer Klasse, der auch zur Jungen Gemeinde geht, hat keine Probleme mit dem vormilitärischen Unterricht. Warum findest du das so schlimm?«
Wenn jemand nicht schoss, trat die Gruppenstrafe in Kraft, und die ganze Gruppe wurde disqualifiziert. Ihre Mitschüler redeten daher auf Gesine ein: »Schieß doch wenigstens, du musst ja nicht treffen, Hauptsache, wir fallen nicht durch!«
Gesine ließ sich überreden, ging mit - und schoss in die Luft. Das ergab keine Punkte, aber die Gruppe wurde nicht disqualifiziert.
Noch weit stärker als ich hat meine Frau auf die militaristische Entwicklung der DDR-Volksbildung reagiert. In ihr saß die Erfahrung vom Herbst 1958, als sie am Pädagogischen Institut in Güstrow ein Lehrerstudium begonnen hatte. Lehrerin in ihrem Lieblingsfach Deutsch mit Russisch als Nebenfach, das konnte sie sich für die Zukunft vorstellen. Schon beim ersten Betreten der Lehranstalt wurden die Neuankömmlinge allerdings mit einem ganz speziellen »Gruß« konfrontiert: Am Schwarzen Brett im Foyer hingen
Listen mit Name und Foto einiger Studenten, die im Semester zuvor exmatrikuliert worden waren, weil sie sich zur Evangelischen Studentengemeinde bekannt hatten. Hansi entdeckte Wiltraut unter ihnen, eine Bekannte aus Warnemünde, die auch an unserer Schule Abitur gemacht hatte. Seitdem fühlte Hansi sich bedroht. Bedrohlich ging es weiter, denn vor Beginn des eigentlichen Studiums mussten die Neuankömmlinge ein Militärlager absolvieren mit Exerzier-und Schießübungen einschließlich nächtlicher Übungen, der Feind konnte ja auch nachts angreifen.
Hansi war geschockt, brachte den militärischen Auftakt zwar noch hinter sich, nach wenigen Wochen aber spürte sie: »Hier halten mich keine zehn Pferde! Wenn ich hierbleibe, gehe ich kaputt.« Bei meinem Onkel Gerhard, dem Landessuperintendenten in Güstrow, holte sie sich Rat, welche Strategie die Hochschulleitung am ehesten dazu bringen könnte, sie zu entlassen. Er riet ihr, auf ideologische Debatten ganz zu verzichten und nur darauf zu verweisen, dass sie mit einem Theologiestudenten verlobt sei. Das Leben an der Seite eines künftigen Pastors und die sozialistische Ideologie würden nicht zueinander passen, sie sehe für sich keine Zukunft im Lehrerberuf. Nach einer kurzen Auseinandersetzung hat der Rektor sie tatsächlich gehen lassen.
Von dieser Last hatte Hansi sich befreit. Doch seitdem reagierte
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