Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
freigekauft worden. Bis heute leidet sie unter den Spätfolgen der Haft.
Dörte Neubauer, obwohl auf Bewährung verurteilt, wurde im September 1986 fristlos von der Medizinischen Fachschule entlassen.
Wolfgang Schnur hingegen machte drei Jahre später, 1989, noch einen übermütigen Karrieresprung: Er wurde Vorsitzender der Oppositionsgruppe Demokratischer Aufbruch und saß mit am Runden Tisch. Im Wahlkampf für die Volkskammerwahlen 1990 reiste er als Spitzenkandidat der Allianz für Deutschland mit Bundeskanzler Helmut Kohl durch die Lande und präsentierte sich als künftiger Ministerpräsident der DDR. Als wenige Tage vor der Wahl Beweise für seine sechzehnjährige IM-Tätigkeit auftauchten - in Rostock fanden sich 38 Aktenordner über ihn -, erklärte er dies als »Höhepunkt einer Hetz-und Schmutzkampagne« und ließ auf seinen Wahlplakaten die Banderole anbringen »Trotz Verleumdung«. Doch am 15. März 1990, drei Tage vor der Wahl, musste er nach einer Aufforderung durch die Bundes-CDU seinen Rücktritt von allen Ämtern erklären, wenig später wurde er aus der Partei ausgeschlossen. 1994 verlor er seine Zulassung als Rechtsanwalt, 1996 verurteilte ihn das Landgericht Berlin wegen Verrats seiner ehemaligen Mandanten Freya Klier und Stephan Krawczyk zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung.
Für viele blieb sein Verhalten bis heute ein Rätsel. Schnur hat in der Regel unbeliebte Fälle von Wehrdienstverweigerung, »Republikflucht« und »staatsfeindlicher Hetze« übernommen, auch schwierige Fälle bearbeitet und Bibeln in die Gefängnisse gebracht. Er hat im Januar 1988 die Verteidigung von Inhaftierten nach der Berliner Rosa-Luxemburg-Demonstration übernommen. 1988 hat man ihn sogar in die Synode der Evangelischen Kirche in Mecklenburg berufen, und er wurde Mitglied der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen. Manche seiner Mandanten werden bis heute nicht mit seinem Verrat fertig.
Frühling im Herbst
W ie lange hatte ich auf eine Veränderung gewartet - und als sie sich schließlich anbahnte, war ich innerlich ganz woanders. Ende 1988 nahm ich an einem Seelsorgekurs der Evangelischen Kirche teil, einer pastoralpsychologischen Weiterbildung, bei der sich die Teilnehmer mehrfach über einige Tage trafen, um ihre seelsorgerische Kompetenz zu vertiefen. Die Kurse waren intensiv, manchmal aufwühlend, ich lernte Dinge in meiner eigenen Verhaltensstruktur kennen, die mir bis dahin verborgen geblieben waren. Wir setzten uns mit dem eigenen Auftreten auseinander, der Motivation in der seelsorgerischen Rolle, den unbewussten Beziehungsanteilen in Begegnungen. Ich war wenig nach außen, aber stark nach innen gerichtet.
Doch gerade in jenen Monaten setzte »draußen« eine ungeheure Dynamik ein. Bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 lernten viele Bürger erstmals, wie man dagegen oder wie man ungültig stimmt. In der Regel warfen die Wahlberechtigten nach der Ausweiskontrolle den Wahlzettel unter den Augen der Wahlkommission einfach ungelesen in eine Urne. Kabinen gab es zwar, aber zumeist in hinteren Teil des Wahllokals, so dass man schon auf dem Weg dorthin die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog. Es war immer nur eine kleine Minderheit, die den Mut hatte, vom Recht der geheimen Wahl Gebrauch zu machen. Aber jetzt entschieden sich plötzlich viele, geheim und »dagegen« zu votieren. Man musste nur wissen, wie. Der Zettel enthielt eine Reihe von Namen, die als geschlossener Block zur Wahl standen. Gegen diesen Wahlvorschlag stimme nur, so hatte in Rostock eine kirchliche Arbeitsgruppe eigens auf einem Flugblatt erläutert, wer alle Kandidaten einzeln, sauber und waagerecht durchstreiche. Ungültig werde ein Wahlzettel, wenn die Namen falsch durchgestrichen seien oder das Blatt mit Losungen versehen sei.
Erstmals nahmen oppositionelle Kräfte in ausgesuchten Wahllokalen auch an der öffentlichen Stimmenauszählung teil und konnten beweisen, dass »sie« gefälscht hatten. Zwar gab es in Rostock wesentlich weniger ungültige und Gegenstimmen als im Landesdurchschnitt, doch auch bei uns wurde das Wahlergebnis in mehreren Fällen angefochten. Aus Halle und Berlin hörten wir sogar von Oppositionellen, die die Fälschungen offiziell bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige gebracht hatten.
Die Politik von Glasnost und Perestroika des Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow hat die DDR-Bürger zweifellos ermutigt. Hatte die resignative Entschuldigung immer gelautet: Man kann ja doch nichts
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