Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
hatten Schach gespielt, viel gelesen und viel gelacht, da ein gutmütiger Heizer wunderbare Geschichten erzählte.
In Cottbus herrschten völlig andere Zustände. Der Knast war berüchtigt. 1933 bis 1945 waren hier unter der NS-Herrschaft ebenfalls überwiegend politische Häftlinge untergebracht wie zwischen 1945 bis 1989 unter dem DDR-Regime. Im zweiten Stock lagen die so genannten Tigerkäfige, Einzelzellen, in denen eine Toilette dicht an der Tür durch Gitterstäbe vom restlichen Raum abgetrennt war. Im hinteren Teil befanden sich ein Holzbett, das tagsüber hochgeklappt wurde, ein Hocker und ein kleiner Tisch. Die Tür blieb für den Insassen unerreichbar.
Gunnar landete hier, weil er sich mit Hubert Schulze angelegt hatte, einem berüchtigten Aufseher, den die Häftlinge nur den »Roten Terror« nannten. 1997 wurde dieser Aufseher zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt, weil er Häftlinge mit dem Gummiknüppel verprügelt, ihnen die Schneidezähne eingeschlagen, sie eine Treppe hinuntergestoßen und stundenlang in eiskaltem Wasser hatte stehen lassen. Schulze war ein fanatischer DDR-Anhänger. Sein Traum sei, so hatte er Gunnar einmal erklärt, das erste sozialistische Gefängnis in Bonn zu leiten. Gunnar hatte höhnisch bemerkt, er habe wohl Scheuklappen vor den Augen. Daraufhin hatte Schulze ihn zusammengeschlagen und für fast eine Woche in Einzelhaft stecken lassen.
Eines Tages erschien in jener Zeit bei Gunnar ein älterer Mitgefangener, ein treuer DDR-Bürger, der in Konflikt mit der Staatsmacht geraten war, weil er sich couragiert für seinen Sohn eingesetzt hatte, der einen Fluchtversuch unternommen hatte. Er habe durch Zufall eine wichtige Information mitbekommen, sagte der Mann, der als eine Art Sprecher der Häftlinge fungierte.
Während seines ersten Gefängnisaufenthaltes hatte Gunnar gelernt, dass im Knast Informationen gegen Ware getauscht werden; entsprechend hatte er sich vor seinem erneuten Haftantritt mit Rasierwasser, Duschgel und anderen Artikeln aus dem Westen eingedeckt. Gegen eine Dose Nivea-Creme erhielt er nun die Information, dass ein Transport in die Bundesrepublik bevorstehe und sein Name sich auf der Liste befinde.
Anfang Juli 1987, als er wieder in den normalen Vollzug verlegt wurde, ging Gunnar bereits davon aus, dass der Tag der Freiheit nicht mehr fern sei. Diese Hoffnung machte die letzten Wochen erträglicher.
In der Nacht vor dem angekündigten Transport war Gunnar sehr aufgeregt, schlief schlecht, am Morgen glaubte er sich schon getäuscht. Normalerweise wurden die Häftlinge früh um 6 Uhr aus den Zellen geholt, doch um 8 Uhr war immer noch nichts passiert. Aber dann ging die Zellentür doch auf. Gemeinsam mit anderen Häftlingen wurde er in den Abschiebeknast von Karl-Marx-Stadt gebracht, wo die Ausreiser in der Regel zehn, vierzehn Tage aufgepäppelt wurden.
Dann kam endlich der lang ersehnte Tag der Ausreise. Gunnar trug seine Ausbürgerungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft der DDR in der Tasche, ebenso die Bescheinigung über seine Haftentlassung, und er trug wieder dieselbe Kleidung, mit der er die Haft angetreten hatte. Er bestieg einen von zwei ganz normalen Reisebussen aus dem Westen, die mit DDR-Kennzeichen auf das Gefängnisgelände gefahren waren, im Ohr die Ermahnung, dass sie Stillschweigen bewahren sollten über die Knastzeit, verbunden mit der Drohung: »Die DDR reicht bis in die Bundesrepublik.«
Während der Fahrt zum Grenzübergang Herleshausen war es still im Bus, totenstill, als hielten alle den Atem an. Keiner wollte riskieren, unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand wieder herausgeholt zu werden. Noch einmal stoppte der Bus auf DDR-Gebiet. Rechtsanwalt Wolfgang Vogel verabschiedete sie und bat um Verständnis für die kleine Verzögerung, die sich am Morgen
ergeben habe, weil ein Ost-gegen einen Westspion ausgetauscht worden sei. Schließlich setzte sich der Bus wieder in Bewegung und überquerte ohne Kontrolle die Grenze. Auf Knopfdruck wurden die DDR-Kennzeichen durch westdeutsche Nummernschilder ersetzt. Am Rastplatz Herleshausen verließ der Bus die Autobahn. Sie waren im Westen. Sie waren in Freiheit.
Jubel brach aus. Sie fielen sich um den Hals, sie weinten, lachten, waren überglücklich. Die Türen des Fahrzeugs öffneten sich, »Westfrüchte« wurden gereicht, Kaffee, Tee, Saft. Sie waren erwartet worden, sie wurden willkommen geheißen. Am 12. August 1987 begann Gunnars neues Leben.
Ute war bereits fünf Monate zuvor
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