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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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ändern!, so glaubten wir seit dem Kurswechsel in Moskau, Druck auf unsere eigene Führung ausüben zu können und zu müssen. Der über Jahrzehnte propagierte Slogan »Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen« ließ sich jetzt gegen die eigene Führung wenden. Gefährlich wäre es hingegen gewesen, sich auf die Entwicklung in Polen zu berufen. Ein heroisches Aufbegehren, mit dem man ein bewaffnetes Eingreifen des Staates riskierte, war uns Deutschen fremd, zudem erschien es uns nach den Erfahrungen von 1953 sinnlos. Außerdem war die polnische Opposition antikommunistisch. Die Mehrheit der Bürgerbewegung aber strebte - ob aus taktischen oder aus aus ideellen Gründen - einen Umbau der bestehenden Macht und einen Dialog mit der SED an. Das war eher Ausdruck der Sehnsucht nach einem verbesserten Sozialismus als nach seiner Abschaffung. Diese Vorstellug gab es eher in den unpolitischen Teilen der Bevölkerung.
    Im Gegensatz zu Moskau versteinerte Ost-Berlin jedoch. Gorbatschow und Honecker entfernten sich politisch voneinander. Bei der Niederschlagung der Studentenproteste Anfang Juni 1989 auf dem »Platz des Himmlischen Friedens« in Peking schlug sich die DDR auf die Seite der chinesischen Partei-und Staatsführung. Ausgerechnet der Rostocker Abgeordnete Ernst Timm brachte einen Antrag in die Volkskammer ein, der Verständnis bekundete für die Wiederherstellung von »Ordnung und Sicherheit
unter Einsatz bewaffneter Kräfte«. Rostocker und Schweriner Basisgruppen und die Evangelische Studentengemeinde Rostock sandten dagegen Protestbriefe an den chinesischen Botschafter in Berlin.
    Die stärkste Dynamik entstand durch die Ausreisebewegung. In der eigenen Familie tauchte das Problem nicht mehr auf, meine drei älteren Kinder waren bereits im Westen, nur Katharina, die jüngste, lebte noch bei uns. Aber um uns herum bröckelte es. Ich erinnere mich an einen Sommergottesdienst, bei dem sich während der Bekanntmachungen auf einmal eine Frau erhob und sagte: »Heute Morgen habe ich einen Zettel auf dem Küchentisch gefunden: ›Ich bin jetzt auch weg.‹« Ihr Sohn Christoph war gegangen. Auf der anderen Seite vom Mittelgang stand daraufhin ein Mann auf: Ihm sei es ebenso ergangen, seine Tochter sei weg. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, dass sich jemand mitten im Gottesdienst einfach zu Wort meldete. Ich spürte die Angst der Eltern, die Angst vor dem Sog, von dem sich viele junge Menschen einfach mitreißen lassen und über Nacht verschwinden würden. Jeder sprach darüber: Der ist gegangen und jene auch! Manche sahen Bekannte plötzlich im Westfernsehen.
    Überhaupt das Westfernsehen: Wir sahen, wie der Grenzzaun zwischen Ungarn und Österreich im Mai 1989 durchtrennt wurde und Tausende von DDR-Bürgern nach Ungarn aufbrachen, weil sie nicht wussten, dass der Abbau der befestigten Anlage am Grenzregime selbst zunächst nichts änderte. Wir sahen, wie sie aufgegriffen wurden, wenn sie ihr Glück bei Nacht und Nebel versuchten und ein Stempel im Pass ihren weiteren Aufenthalt in Ungarn für illegal erklärte. Das war der Auftakt für die Botschaftsbesetzungen, erst in Budapest, dann in Warschau und Prag. In die Tschechoslowakei kam man am leichtesten, weil sie das einzige Land war, für das man kein Visum benötigte. Die Straßen der Prager Kleinseite waren überfüllt von herrenlosen Trabis, deren Besitzer über den hohen Zaun des Palais Lobkowicz auf das Botschaftsgelände der Bundesrepublik Deutschland geklettert waren. Hunderte, dann Tausende harrten unter primitiven hygienischen Bedingungen aus,
bis endlich am 30. September 1989 Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon des Botschaftsgebäudes trat und seine berühmt gewordenen Worte sprach: »Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise …« Der Rest ging unter im Aufschrei und Jubel derer, die nur noch glücklich waren, eine Heimat verlassen zu können, die ihnen zur Last geworden war.
    Honecker und seine Clique wollten den Flüchtlingen »keine Träne nachweinen«, wie das Neue Deutschland höhnte. Diesen Satz werde ich nie vergessen. In Massen liefen die Menschen weg, weil sie es in der DDR nicht mehr aushielten, die ostdeutschen Gerontokraten aber erklärten sie zu Opfern einer »Heim-ins-Reich-Psychose« und zu Verrätern ihrer Heimat. Bedurfte es noch eines weiteren Beweises, wie wenig wir Bürger ihnen bedeuteten? Für die »abgehauenen« Jugendlichen, für die jungen Familien, die mit ihren kleinen Kindern aufgebrochen waren, begann das

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