Winter in Maine
der Dunkelheit sei der Wald keine Gegend zum Spazierengehen, nicht mal im Sommer. Ab und zu kämen aus Kanada größere Tiere über den Fluss, denen eine überraschende Begegnung vielleicht nicht gefallen würde. Schweigend gingen wir unter dem Laubdach der Bäume entlang und folgten einer braunen Linie, die sich ins Unterholz schlängelte. Der Weg war so schmal, dass ich begriff, warum sie das letzte Stück nicht gefahren war: Die Zweige berührten sich über den Pfad hinweg. Im Pick-up musste man bloß einen Kilometer weit rücksichtslos weiterfahren. Wahrscheinlich war es klug von ihr, den Wagen an einer Stelle stehen zu lassen, wo er nicht zu sehen war.
Sie wusste nicht, wo sie wenden sollte, darum bot ich ihr an, das Auto aus dem Wald herauszufahren. Ich saß übers Lenk rad gekrümmt, denn es war ein Kleinwagen, in dem mein Kopf an die Decke stieß. Sie lachte. Ich muss zugeben, es war wirklich witzig, man steigt ein, dreht den Schlüssel und stößt mit dem Kopf an die Decke, als würde nicht der Wagen gestar tet, sondern man selbst.
Zur Straße nach St. John, sagte sie und deutete nach hinten, wies mich nach links und rechts, die Strecke, die sie gekommen war, obwohl ich einen kürzeren Weg kannte. Ihre innere Karte war nicht die einer Einheimischen. Anhand der Strecke, die sie wählte, schätzte ich, dass sie von Fort Kent dreißig Kilometer zurückgelegt hatte, obwohl wir nur zwanzig Kilometer von dort entfernt waren, wenn man den Weg der Krähen nahm. Gerade flogen sie schwarz und krächzend über den Bäumen.
Als wir uns dem Waldrand näherten, schaltete ich die Scheinwerfer ein, hielt an, verabschiedete mich und stand im letzten Sonnenlicht vor der Wand aus Grün, und das Rauschen der Blätter im Wind klang wie die Brandung des Meeres.
Claire sagte: Ich kann Sie nicht den ganzen Weg laufen las sen. Es ist bald stockdunkel.
Das hab ich schon oft gemacht, erwiderte ich, um sie zu beruhigen. In jenen Nächten hatte ich mich tatsächlich schon mit einem Getränk zum Aufwärmen und ein paar guten Ziga retten in den kalten schwarzen Sommerwald hinausgewagt.
Ich muss jedenfalls in der Stadt noch ein paar Besorgungen machen, sagte ich.
Ich bringe Sie hin.
Ich zögerte bei dem Angebot, mit einer Fremden in die Stadt zu fahren, deren Schwester behauptete, sich an mich zu erin nern. Das bot nicht viel Gesprächsstoff, und die Zeit konnte lang werden.
Ich heiße übrigens Claire, sagte sie.
Das Gute an einem Namen ist, dass er etwas Vertrautes hat, einen Klang, der etwas bedeutet, wenn man ihn hört, schon beim ersten Mal. Und das Gute an einem Mantel, den man ständig trägt, ist, dass man alles, was man braucht, dabei hat.
Wir tauschten die Plätze, und sie verließ auf der Kiesstraße die Hügel, und als wir in St. John an die Kreuzung kamen, bog sie rechts ab und fuhr an den langgestreckten Feldern, ein paar Häusern und einer Kirche vorbei.
Sie sagte: Ich wusste, dass Sie irgendwo hier draußen hinter den Hügeln wohnen.
Auf der kurvigen Straße nach Fort Kent kamen wir also auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen. Am anderen Flussufer, in New Brunswick, wirbelte ein roter Traktor auf einem Kar toffelacker Staub auf. Die Leute im südlichen New Brunswick waren ebenfalls Franzosen, und am Flussufer gegenüber von Saint Frands streckte sich der weiße Kirchturm von Saint Fran'fois in den Himmel. Im Wald zu meiner Rechten lagen die Siedlungen, in denen sich Jäger Blockhütten mieteten und ein paar Familien wohnten. Ich begegnete diesen Leuten nie, aber sie wussten, dass ich in der Gegend wohnte, und umgekehrt. Mehr Nähe brauchte hier keiner.
Kurz vor Fort Kent drosselte sie wegen eines geparkten Streifenwagens die Geschwindigkeit und sprach davon, wie abgekapselt wir hier oben alle seien, sogar in der Stadt, wie wichtig und wohltuend ihre Familie für sie sei. Ich nickte und setzte mich anders hin. Als ich vor dem Supermarkt aussteigen wollte, sagte sie plötzlich, bis vor kurzem sei sie mit jemandem zusammen gewesen, aber im Augenblick nicht, denn sie brau che Zeit zum Nachdenken.
Ich sagte nichts, denn sie hatte mir keine Frage gestellt, aber ich hätte darauf achten sollen, wie sie eine lange Geschichte in einer kurzen Fahrt unterzubringen versuchte, dass sie so etwas völlig bedenkenlos einem Fremden mitteilte. Als sie mich mit den Lebensmitteln zu der Stelle zurückbrachte, wo sich der Weg verengte, berührte die Sonne den Horizont, und der Wald schloss sich um uns wie ein
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