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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerard Donovan
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wurde, er selbst und nicht der Mann neben ihm oder jemand am anderen Ende des Schützengrabens oder auf einem völlig anderen Schlachtfeld, eine so große Überraschung, dass diese Männer zwanzig Jahre lang auf Fingerspitzen auf ihn zukrochen, und als sie bei ihm anlangten, lag er schlafend im Bett, deshalb drückten sie ihre Finger in seine Träume und durchbohrten sie wie Marmelade, drangen in diese Träume ein und standen auf, und er sah sie, sah sie alle in dieser Marmelade, in ihren Uniformen, krank bis auf die Knochen von dem langen Weg in seine Träume. Und dann deuteten sie mit den Fingern auf ihn und fragten: Kennst du mich noch? Du hast mich erschossen.
    Als ich das hörte, begriff ich, dass mein Großvater nicht nur die Orden und das Gewehr aus dem Krieg mitgebracht hat te. Die Männer, die er erschossen hatte, schleppten sich über Meere und Flüsse, Straßen und Hügel, ein paar Zentimeter pro Tag, mit einem Kompass, der untrüglich auf meinen Großvater deutete, und als sie ihn fanden, rochen sie wohl seine Träume, schmeckten sie auch, aßen sie auf, bis sie der einzige Traum waren, der in seinem Kopf noch übrig blieb, der einzige Traum, den sein Schlaf hervorbringen konnte, deshalb hörte er bald auf zu schlafen und lag nachts mit offenen Augen im Dunkeln.
    Soviel ich weiß, hat mein Vater mit diesem Gewehr nie einen tödlichen Schuss abgegeben. Vielleicht wollte er verhin dern , dass ihn irgendwel che Gespenster verfolgten, wenn sie ein vertrautes Geräusch hörten, vielleicht das letzte Geräusch, das sie im Leben gehört hatten, obwohl nicht er das Gewehr auf sie abgefeuert hatte, auch sein Vater nicht. Auf dem Gewehr des englischen Scharfschützen lasteten bereits Geister, die ihm folgten wie die weißen Schlangenlinien des Kielwassers einem Schiff. Mein Vater war im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs Fallschirmjäger und kein Scharfschütze gewesen, er musste meistens rennen und schießen, sich oft ducken, und dann wieder rennen und schießen. Über den Krieg sagte er bloß, dass in den meisten Dörfern auf dem Weg zum Rhein alles zerstört gewesen sei, Trümmer, wo einst Fenster waren, Trümmer, wo einst Menschen waren. Und diese Zerstörung habe ihn von Waffen jeglicher Art kuriert.
    Ich hingegen hatte die Enfield vor den jüngsten Ereignissen zweimal abgefeuert. Einmal hatte ich unter Anleitung meines Vaters ein verletztes Huhn erschossen und später, im darauf folgenden Winter, einen Fuchs, der auf die Lichtung gehumpelt kam und anscheinend von einem Bären verwundet worden war. Als ich mich dem Fuchs näherte, lief er nicht weg, als ich seinen Zustand sah, rührte er sich immer noch nicht, und als ich das Gewehr hervorholte, sah er mich und das Gewehr bloß an. Der Knall des Schusses erfüllte den Wald und warf den Fuchs zu Boden. Es ist nicht besonders ehrenvoll, Schmerzen zu haben und sie zu ertrag en, geschweige denn, sie zu be enden. In Wahrheit habe ich nachts oft an den Fuchs denken müssen und ihm das Beste gewünscht, für den Fall, dass es wirklich ein Leben nach dem Tod gibt.
    Ich will damit sagen, dass es mir nicht leicht fiel zu schießen.
    Ich hatte Angst vor dem Rückschlag und dem Geruch, dem toten, zerfetzten Geschöpf am anderen Ende des Laufs.
    36
    Claire stand im hellen Licht des Cafes und starrte mich an, als wollte sie mir das Wort »Leiche« - das, was sie gefunden hat ten - nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen sagen.
    Manchmal füllen sich die Augen so schnell, als würde Was ser in einen Fingerhut gegossen, und man kann nicht alles gleichzeitig sehen, sondern muss sich entscheiden, was man betrachtet. Draußen hielt ein Streifenwagen, als sie von der Leic he sprach, aber ich blickte weiter Claire an, was mir schwer fiel, weil ich die Zeit vor mir sah, die ich mit ihr verbracht hatte, weil ich überlegte, was ihre Augen wohl in mir gesehen hatten, mich fragte, wie ihr das je hatte genug sein können, selbst für so kurze Zeit, und an das Gefühl ihrer Lippen auf meinem Mund dachte, an ihre Hände auf meinen Schultern.
    Die Tür des Streifenwagens öffnete sich. Ich dachte an Hobbes, dachte, dass es richtig war, wenn der Mensch, der ihm das Leben genommen hatte, selbst tot war, auch wenn man mir jetzt vor Claires Augen Handschellen anlegen und mich abführen würde, fragte mich, ob sie mich verraten hatte. Am Ende kann einen nur jemand verraten, der einem nahesteht.
    Seufzend schüttelte sie den Kopf und wandte zu meiner Er leichterung den Blick

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