Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Wahlaussichten der Kommunisten zu dulden. Falls die Wahl schlecht ausging, hätte Gottwald nicht nur eine Schlappe eingesteckt; er wäre so gut wie sicher ein toter Mann.
A ls ich zehn wurde, beschlossen meine Eltern, dass die Hauslehrerin mir alles beigebracht hatte, was sie wusste, und dass es für mich an der Zeit wäre, einen umfassenderen Unterricht zu erhalten. Ich war zu jung für das Gymnasium in Prag, also schlugen sie vor, mich auf ein Internat in der Schweiz zu schicken. Ich reagierte wie die meisten Zehnjährigen: mit Angst, Tränen und vorgetäuschter Krankheit. Da ich gehört hatte, dass Zürich ein Zentrum für die Behandlung von Kinderlähmung war, behauptete ich bei meiner Ankunft, dass mir die Beine so sehr weh täten, dass ich auf keinen Fall weiterfahren könnte. Meine Mutter ließ sich allerdings nicht so leicht hinters Licht führen und fand einen Arzt, der mich für gesund erklärte. Es blieb nichts anderes übrig, als widerwillig in die Schule zu gehen, in Chexbres.
Das Prealpina Institut pour Jeunes Filles war genauso furchtbar und unfair, wie ich es erwartet hatte, zumindest am Anfang. Bei der
Ankunft hatte ich den Eindruck, dass man hier nur etwas bekam, wenn man auf Französisch darum bat. Ich allerdings beherrschte diese Sprache kaum. Ich war überzeugt, dass ich nicht nur durchfallen, sondern auch verhungern würde. Aber schon nach einem Monat lernte ich allmählich Französisch, fand Freunde und erzielte in der Schule gute Noten. Mein Zimmer hatte einen Blick auf den Genfer See; samstags war es uns erlaubt, in den Ort zu gehen und Schokolade zu kaufen. Ich hatte immer noch Klavierunterricht und lernte Schlittschuh laufen und Ski fahren. Ich hatte gegen die Entscheidung, mich hierher zu schicken, angekämpft, aber jetzt hatte ich keinen Grund zur Klage. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, mich danach zu sehnen, meine Familie in Belgrad wiederzusehen, wenn die Schule in den Winterferien geschlossen würde. Stattdessen wurde ich aber in eine Schwestereinrichtung geschickt, wo alle jene verabscheute Sprache Deutsch redeten und wo ich mich ebenso verwirrt und elend wie einsam fühlte. Der einzige Trost kam über die Weihnachtszeit, mit den festlichen Lichtern, der schönen Musik und dem Text in der Messe in der neutralen Sprache Latein. Erst Jahre später erkannte ich den wahren Grund für meine kläglichen Ferien: Meine Eltern wollten mich wie stets beschützen, weil die politische Lage in ganz Mitteleuropa unsicher und immer gefährlicher geworden war.
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EIN VERHÄNGNISVOLLES VERSÄUMNIS
J ahre mit einer acht am Ende haben in der tschechischen Geschichte eine herausragende Bedeutung. Die Karls-Universität wurde 1348 gegründet, im Jahr 1618 wurden Gesandte der Habsburger aus dem Fenster gestürzt und dadurch der Dreißigjährige Krieg ausgelöst; 1848 kam in Prag der erste panslawische Kongress zusammen; die Tschechoslowakische Republik wurde 1918 gegründet; zwanzig Jahre später fand die Münchner Konferenz statt. In seinen ersten drei Monaten sollte das Jahr 1948 einen Platz auf der Seite jener Wegmarken einnehmen, an die man sich nur ungern erinnert. Im Januar fuhr mein Vater zu Gesprächen mit Beneš nach Prag. Nachdem der Botschafter die halsabschneiderischen Neigungen der kommunistischen Führer in Jugoslawien kennengelernt hatte, hoffte er, dass sich der Präsident voll im Klaren war über die Gefahr, die den demokratischen Kräften drohte, und dass er bereits eine klare Strategie für die Verteidigung hatte. Als mein Vater Beneš’ Büro im Hradschin betrat, empfing ihn ein geistig noch wacher, aber kranker Mann. Beneš war drei Jahrzehnte lang ein wichtiger Akteur der Weltpolitik gewesen und ein Dutzend Jahre lang das Oberhaupt eines zerrissenen Landes. Der Schlaganfall (oder die Anfälle), den er erlitten hatte, war schuld daran, dass er ein Bein leicht nachzog, hielt ihn aber nicht davon ab, wie gewohnt möglichst doppelt so hart zu arbeiten wie andere.
Vier Stunden lang (zwei am Vormittag und zwei am Nachmittag) diskutierten der Präsident und sein Botschafter am 12. Januar über die Weltlage, wobei Ersterer seine typischen Zweifel am Westen nicht verhehlte, aber inzwischen auch überaus scharfe Kritik an der aggressiven Politik der Sowjetunion übte. Meinem Vater gelang es endlich, die Diskussion zu seiner eigenen Hauptsorge zu lenken: zur inneren Lage in der Tschechoslowakei. War Beneš bereit, die
Verfassung gegen die Kommunisten zu verteidigen? Hatte er
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