Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Fallschirmspringer, die Nachbarn und Priester, die ihnen Zuflucht gewährt hatten, sowie Alois und Ata Moravec, wurden hingerichtet.
War das Attentat auf Heydrich nun klug oder dumm, ein kühner Handstreich im Kampf um Gerechtigkeit oder ein impulsiver Patzer von einem Führer, der um jeden Preis Eindruck schinden wollte? Beneš war sich womöglich selbst nicht sicher, weil er nie das Verdienst für den Anschlag beanspruchte. Die deutsche Rache kostete Tausende Tschechen das Leben und ließ den Gegnern des Regimes kaum eine andere Wahl, als sich zu verstecken und zu hoffen, dass sie überlebten. Sie hatten jedoch ohnehin bereits stark unter Druck gestanden, und die Kühnheit der Operation hob die Kampfmoral der Alliierten, die damals auf einen Tiefpunkt gesunken war. Heydrich war der erste – und letzte – hohe NS-Funktionär, der erfolgreich von verdeckten Agenten angegriffen wurde.
Der tschechoslowakische Geheimdienstchef František Moravec (kein Verwandter von Marie) zählte zu den Leuten, welche das Attentat als einen Erfolg betrachteten. Die Aktion erregte weltweit Aufsehen, hob den Status des Landes unter den Exilgruppen in London und raubte den Nazis eine ihrer tüchtigsten Führungskräfte. Der englische Diplomat Bruce Lockhart, ein Freund von Jan Masaryk, und in der Regel ein standhafter Verbündeter der Tschechoslowakei im Foreign Office, vertrat eine andere Meinung: Der Vorfall habe den Druck vervielfacht, dem sich der Widerstand ausgesetzt sah, erklärte er, während er der Sache der Alliierten nicht im Geringsten nützte.
Die Verschwörung gegen Heydrich illustrierte, mit welch schwierigen Entscheidungen Politiker ebenso wie Bürger konfrontiert wurden. Beneš musste den politischen Nutzen einer spektakulären Aktion abwägen gegen die unweigerlichen Nachwirkungen – die Nazis waren imstande und auch gewillt, grausam zurückzuschlagen. Innerhalb des Protektorats steckten viele Tschechen in einer persönlicheren Zwickmühle. Aktive Mitglieder des Widerstands hatten bereits beschlossen, wenn nötig ihr Leben zu opfern, aber viele andere mussten ganz spontan Entscheidungen treffen: denunzieren oder den Mund halten; sich öffentlich bekennen oder wegsehen. Der Hausmeister und seine Frau hatten sich niemals zum Untergrund gemeldet, aber als sich Marie an sie wandte, antworteten beide: »Hier bin ich«, und das unter großer Gefahr für ihr eigenes Leben. Das Gleiche gilt für Freunde und Verwandte, die im Keller, in der Garage oder unter dem Dach »nur für ein paar Tage« Platz für die Flüchtlinge fanden. Es wundert einen nicht, dass die Priester der Boromejsky-Kirche untereinander stritten, wie sie sich verhalten sollten.
Auch andere Tschechen gerieten wegen ihres Berufs in eine moralische Zwickmühle, etwa der erste Arzt, der den verletzten Heydrich untersuchte, der Dolmetscher, der beim Verhör von Ata Moravec anwesend war, der Feuerwehrmann, dem befohlen wurde, den Schlauch in die Kellergewölbe der Kirche zu führen, und die Polizisten, die man rief, um den Schauplatz abzuriegeln. Diese Männer wurden nicht angewiesen, jemanden umzubringen, aber sie erleichterten denjenigen, die es taten, ihre Arbeit. Wenn wir heute an ihrer Stelle wären, wie würden wir handeln? Was wird erreicht, wenn man den Gehorsam verweigert? Gibt es nicht andere Ärzte, Dolmetscher, Feuerwehrmänner und Polizisten, die das tun würden, was man ihnen sagt, wenn wir uns weigerten? Würden wir unser Leben für nichts und wieder nichts opfern?
Čurda war gewiss ein Schurke, aber was ist mit den Tschechen – und das waren Hunderte –, die bereitwillig Auskunft gaben, was sie an den Tagen um das Attentat beobachtet hatten? Waren sie habgierig oder versuchten sie aufrichtig, Menschenleben zu retten, indem sie den unmittelbaren Anlass für die deutsche Brutalität aus der Welt schaffen wollten? Was sollen wir von dem charakterschwachen
Präsidenten Hácha halten, der den Anschlag auf Heydrich verurteilte und seine Landsleute aufforderte, die Ermittlungen zu unterstützen? Was ist mit den lokalen Beamten, die zwar alles taten, was die Deutschen von ihnen verlangten, aber, nach dem Vorbild des braven Soldaten Schwejk, mit so wenig Kompetenz und Effizienz wie nur möglich?
Bei den obigen Fragen fällt mir eine tschechische Variante der Entschuldigung »Ich habe nur Befehle ausgeführt« ein. Übersetzt heißt es etwa: »Ich war nicht der Dirigent des Orchesters, nur ein Musiker.« Ich persönlich empfinde Verachtung
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