Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Tagebuchseiten bei sich – und zwar nicht nur die, die Tom und ich damals gefunden haben, sondern möglicherweise auch die von Gary. Dann bekommt jeder, was er will: Ich bekomme die Seiten, ihr zwei habt eure Mutter wieder, und Katherine wird erfahren, was ihr Mann hier in West Hall wollte.«
»Ich finde nicht …«, setzte Ruthie an.
Candace unterbrach sie. »Dich fragt hier keiner. Wir gehen alle.«
»Aber meine Schwester ist krank«, protestierte Ruthie. »Sie hat Fieber.«
Candace musterte Fawn prüfend. »Ich finde, sie sieht gesund aus. Dir geht es gut genug, oder, Fawn? Willst du nicht auch in den Wald gehen und nach deiner Mom suchen?«
Fawn nickte energisch.
»Niemand bleibt hier«, beschloss Candace und fixierte Ruthie mit einem scharfen Blick.
Katherine wusste, dass Candaces Vorschlag durchaus vernünftig war – es war gut möglich, dass sie die Antworten auf ihre Fragen dort oben unter der Teufelshand finden würde.
Katherine sah sich auch noch die letzten unscharfen Fotos auf Garys Kamera an.
»Also, worauf warten wir noch?«, sagte Candace, deren Stimme vor Erregung fast überzuschnappen drohte. »Jacken und Stiefel anziehen – und los geht’s! Wir brauchen Taschenlampen, Stirnlampen, was immer ihr im Haus habt. Vielleicht auch ein Seil. Und ich habe in der Scheune einige Schneeschuhe und Skier gesehen – der Schnee da draußen ist ziemlich tief. Beeilung. Und denkt dran, jeder bleibt da, wo ich ihn sehen kann. Keine Überraschungen, sonst schieße ich.«
Katherine war beim letzten Foto angelangt. Ruthie beugte sich über das Display und deutete darauf. »Da ist irgendwas.«
Das Bild war unterbelichtet und verwackelt, aber eindeutig im Freien aufgenommen worden, und zwar mit direktem Blick auf die kleine Öffnung im Schatten unterhalb des Felsfingers.
Allerdings war diesmal noch etwas anderes auf dem Foto zu sehen. Etwas, was in der Öffnung kauerte.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Candace stirnrunzelnd.
Die Gestalt war klein und verschwommen.
»Nanu«, sagte Katherine. »Das sieht aus wie ein kleines Mädchen.«
1908
Besucher von der anderen Seite
Das geheime Tagebuch der Sara Harrison Shea
27. Januar 1908
»Wo willst du hin?«, fragte Martin, als er mich heute Morgen dabei erwischte, wie ich mir Mantel und Stiefel überzog.
»Einen Spaziergang machen. Ich dachte, die frische Luft wird mir vielleicht guttun.«
Er antwortete mit einem seltsam halbherzigen Nicken. Fast hatte es den Eindruck, als fürchte er sich vor mir.
Vielleicht sollte ich mich stattdessen vor ihm fürchten.
Immer wieder muss ich an den Zettel denken, den wir auf dem Bett gefunden haben:
Frag Ihn, was Er auf dem Aker vergraben hat.
Seitdem verhält Martin sich sehr merkwürdig – er sieht mir nicht in die Augen und scheint bei jedem Geräusch zusammenzufahren. Letzte Nacht hat er sich lange im Bett gewälzt, bis er irgendwann aufgab und sich Stunden vor Morgengrauen unten ans Feuer setzte. Ich hörte ihn, wie er von Zeit zu Zeit aufstand, um ein weiteres Scheit aufzulegen oder im Zimmer umherzugehen. Endlich, als die Sonne aufging, hörte ich, wie er Shep fütterte und den alten Hund nach draußen lockte, damit er mit in die Scheune kam, wo Martin seine Arbeiten verrichten musste.
Ich war tausendmal durchs Haus gegangen und hatte keine Spur von Gertie gefunden, daher hielt ich es für das Beste, meine Suche draußen fortzusetzen. Ich wusste sofort, wohin ich gehen musste – an einen Ort, an dem ich zuletzt als kleines Mädchen gewesen war. Trotzdem kannte ich den Weg dorthin noch ganz genau.
Der Morgen war klar und kalt. Die Sonne beschien Felder und Wälder, und die Schneedecke glitzerte, als wäre die Welt über Nacht mit Diamanten zugedeckt worden. Ich stellte mir Gertie vor, die irgendwo hier draußen war – auch sie ein funkelnder Edelstein, der darauf wartete, gefunden zu werden.
Ich zog meinen alten Wollmantel fester um mich und stapfte auf Schneeschuhen über den Acker in den Wald hinein. Höher und höher stieg ich, über die Obstwiese mit ihren windschiefen Baumkrüppeln, über Felsen und umgestürzte Baumstämme hinweg, vorbei an der Teufelshand und weiter durch die Wälder Richtung Norden. Ich folgte einem kleinen Trampelpfad, der fast vollständig mit Dornengestrüpp und Schösslingen überwachsen war, die ihre Köpfe durch die schwere Schneedecke reckten. Es war ein Pfad, der nur dem auffiel, der ihn schon einmal gegangen war, so wie ich es früher viele Male in der Woche getan
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