Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
gekommen, um mit dir zu sprechen«, verkündete Reverend Ayers.
Mein Vater nickte und hielt ihnen die Tür auf. »Kommt in die Stube. Sara? Geh in die Küche und hol den Branntwein und ein paar Gläser, sei so gut.«
Sie setzten sich in der Wohnstube in einem Kreis ums Feuer. Einige der Männer holten Pfeifen aus den Taschen und rauchten. Ich brachte ihnen den Branntwein. Niemand sprach ein Wort.
»Danke, Sara«, sagte mein Vater. »Und jetzt lass uns allein. Geh mit Jacob in die Scheune und erledigt eure Arbeit. Wenn ihr fertig seid, gibt es noch Holz aufzuschichten.«
»Ja, Sir«, sagte ich.
Mein Bruder und ich machten uns auf den Weg zur Scheune, um unsere Arbeiten zu verrichten. Jacob lief in der Scheune unruhig auf und ab und rang die Hände.
»Was meinst du, worum geht es?«, fragte ich ihn.
»Um Auntie. Sie werden versuchen, ihn zu zwingen, sie fortzuschicken«, erklärte er mir.
»Aber das können sie doch nicht tun!«, rief ich. »Welches Recht haben sie dazu?«
»Vater ist von den Leuten in der Stadt abhängig. Sie kaufen unser Gemüse, unsere Milch und unsere Eier. Diese Männer haben viel Macht.«
Ich lachte spöttisch. »Aunties Macht ist größer.«
Als die Männer endlich das Haus verließen, war mein Vater bleich und aufgewühlt. Er sprach wenig. Er schenkte sich ein Glas Branntwein ein, das er in zwei großen Schlucken leerte. Dann trank er noch einen zweiten.
Als Auntie später mit frisch gehäuteten Kaninchen kam, um daraus einen Eintopf für unser Abendessen zu kochen, wartete Vater vor dem Haus auf sie. Sie sprachen flüsternd miteinander, kamen jedoch nicht herein. Schon bald wurden ihre Stimmen lauter.
»Wie kannst du es wagen?«, rief Auntie.
Vater kam ins Haus zurück. »Es tut mir leid«, sagte er noch zu ihr, bevor er die Tür schloss und den Riegel vorschob. Wir drei setzten uns in die Wohnstube und hörten Auntie von draußen rufen.
»Es tut dir leid? Es tut dir leid ? Öffne die Tür! Wir sind noch nicht fertig miteinander!«
Ich erhob mich von meinem Platz, um die Tür zu entriegeln, doch Vater zog mich zurück auf den Stuhl und hielt mich fest. Seine Finger gruben sich in meinen Arm.
Jacob biss sich auf die Lippe und starrte mit Tränen in den Augen zu Boden.
»Wie kannst du es wagen?«, schrie Auntie erneut, als sie uns durchs Fenster neben der Tür beobachtete. Ihre Miene war dunkler und zorniger, als ich sie je gesehen hatte. »Wie kannst du es wagen, mich zu verstoßen? Dafür wirst du bezahlen, Joseph Harrison«, fauchte sie. »Ich schwöre es dir, du wirst dafür bezahlen.«
Später am Abend, nachdem Vater mit der leeren Branntweinflasche eingeschlafen war, schlüpfte Jacob zu mir in die Kammer. »Ich werde mit ihr reden«, sagte er. »Ich werde schon einen Weg finden, dass sie zu uns zurückkommt.« In seinem Blick lag tiefe Verzweiflung, und ich begriff, wie groß seine Liebe zu ihr war; wie sehr er sie brauchte. Wir alle brauchten Auntie. Ohne sie, davon war ich überzeugt, würde unsere Familie nicht zurechtkommen.
Noch spätnachts saß ich in meinem Bett und wartete darauf, dass Jacob zurückkehrte. Irgendwann fielen mir die Augen zu.
Ich erwachte davon, dass Vater mich rüttelte. Morgenlicht strömte zum Fenster herein. Vater stank nach Branntwein. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Es ist Jacob«, sagte er.
»Was?«, fragte ich, sprang aus dem Bett und zog einen Pullover über mein Nachthemd. Vater antwortete nicht, doch ich folgte ihm aus meiner Kammer und die Treppe hinunter nach draußen. Auf nackten Füßen lief ich durchs taufeuchte Gras. Den ganzen Weg zur Scheune hielt ich mich in Vaters Schatten.
Jacob hing, ein Strick aus grobem Hanf um den Hals, von einem der Balken.
Vater schnitt ihn herunter und hielt ihn schluchzend im Arm. Und dann tat ich etwas, wovon ich mich hinterher stets fragte, ob ich es hätte tun sollen: Ich sagte ihm die Wahrheit.
»Er wollte gestern Nacht zu Auntie«, verriet ich ihm.
Vaters Augen umwölkten sich, ein Sturm des Zorns braute sich in ihm zusammen. Er trug Jacob ins Haus und legte ihn in sein Bett, als wäre er ein kleiner Junge, den er zur Nacht bettete.
Dann holte Vater sein Gewehr und einen Kanister mit Kerosin.
Ich lief hinter ihm her über den Hof und den Acker in den Wald hinein.
»Geh heim!«, befahl er mir. Doch ich gehorchte ihm nicht. Ich ließ mich nur ein wenig zurückfallen und vergrößerte den Abstand zwischen uns. Wir durchquerten die Obstwiese, wo die Bäume voller unreifer Äpfel und
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